Gastronomie Laetitia Reiner 22.10.2025

Foodtrend Vegourmet: Wenn Gemüse glänzt

Pflanzenbasierte Küche hat sich von der Beilage zur eigenständigen kulinarischen Disziplin entwickelt – dem Foodtrend Vegourmet sei Dank. Er steht für Kreativität,
Geschmack und Vielfalt auf pflanzlicher Basis. Für Gastronomiebetriebe eine Herausforderung – und gleichzeitig eine Chance.

Wer gerne pflanzlich isst, muss heute nicht mehr auf Genuss verzichten. Gerichte mit pflanzlichem Fokus, die früher nur in Bio-Bistros oder Reformhäusern angeboten wurden, stehen inzwischen auf den Karten urbaner Szenelokale und Gourmetrestaurants. Sie gelten nicht mehr als «Alternative», sondern werden als kreative Hauptdarsteller inszeniert.

«Ich möchte Gerichte kreieren, bei denen sich niemand fragt, ob sie
vegan sind.»

Aris Guzman, Köchin und Gründerin von Soul Food by Aris

Für Aris Guzman ist dieser Wandel nicht nur Realität, sondern Herzenssache. Die Köchin und Gründerin von Soul Food by Aris lebt seit vielen Jahren konsequent vegan – aus ethischer Überzeugung. Eine Haltung, die heute mehr Verständnis findet als früher. «Vegane Küche war früher eine Nische – heute ist sie Teil der kulinarischen Landschaft geworden», sagt sie. 2013 übernahm sie die Küchenleitung in einem der ersten veganen Restaurants der Schweiz, im Sanus Viventium in Rapperswil. Der grosse Ansturm hat sie überrascht. «Natürlich glaubte ich an die vegane Küche, aber zu dieser Zeit war der Begriff ‹vegan› für die meisten Menschen noch ein Fremdwort», erinnert sie sich.

Seitdem ist viel passiert: Die vegane Küche ist vielfältiger geworden. Zwischen Ethik, Gesundheit und Genuss ist ein neuer Foodtrend entstanden, welcher die kulinarische Qualität in den Mittelpunkt rückt: Vegourmet. Köchinnen und Köche sind gefordert. Eine Herausforderung, dersich Guzman gerne stellt: «Ich möchte Gerichte kreieren, bei denen sich niemand fragt, ob sie vegan sind.» Für sie zählen Textur, Aroma, Farben und natürlich der Geschmack. Ein Ansatz, der genau den Nerv des neuen Trends trifft.

Besonders spannend findet Guzman, wie sehr die Gäste ihre Ansprüche erhöht haben: «Vor zehn Jahren war man froh, wenn es überhaupt ein veganes Gericht auf der Karte gab. Heute erwarten die Menschen Kreativität und Tiefe – und das ist gut so, denn genau dieser Anspruch treibt die Qualität an.» Auch die Lieferanten ziehen mit. Es gibt heute ein viel breiteres Angebot an innovativen pflanzlichen Zutaten, regional wie international. Diese neue Vielfalt sieht sie als Chance für die Gastronomie – und als Einladung, eigene Signature-Gerichte zu entwickeln, die sich nicht hinter Fleischgerichten verstecken müssen.

Pflanzenbasiert – aber bitte mit Charakter

Für Guzman bedeutet vegane Küche mehr als das Weglassen tierischer Produkte. Sie ist Ausdruck von Herkunft und Kultur. Aufgewachsen in der Dominikanischen Republik und als Teenagerin in die Schweiz gekommen, verbindet sie in ihrer Küche karibische Einflüsse mit lokalem Gemüse – Maniok trifft auf Rande, Yuca auf Sellerie. Sie liebt es, Neues auszuprobieren. Doch nicht alles Neue kommt auf Anhieb gut an. «Kartoffeln und Tomaten, ursprünglich aus Lateinamerika, gehören zur Schweizer Küche – aber bei Maniok herrscht plötzlich Zurückhaltung», sagt sie. Hier sieht sie es als ihre Aufgabe, ihren Gästen das Neue näherzubringen, damit die pflanzenbasierte Küche ihr Potenzial ausschöpfen und sich als das zeigen kann, was sie längst ist: kreativ, vielseitig und voller Möglichkeiten. Bei der Menugestaltung bleibt Guzman ihrem eigenen Stil dennoch treu: Trends beobachtet sie zwar, doch wichtiger ist ihr, dass jedes Gericht eine Geschichte erzählt und ohne überflüssige Effekte auskommt. «Ich will nicht jedem Hype hinterherlaufen – lieber entwickle ich etwas, das zu mir meinen Gästen und mir passt», sagt sie.
 

Wenn Gemüse Geschichte schreibt

Wie man pflanzenbasierte Küche auf hohem Niveau umsetzt, zeigt das Team des Restaurants Schloss Wartegg am Rorschacherberg SG. In der Küche von Simon Romer spielt Gemüse nicht die Neben-, sondern die Hauptrolle.

Der Küchenchef im bio-zertifizierten Restaurant bringt auf den Teller, was im eigenen Garten wächst. Und das ist eine ganze Menge: Auf über 2500 m² gedeihen mehr als 100 Pflanzen, darunter viele alte und seltene Sorten von ProSpecieRara: Kardy, Fenchel, Wildkräuter, Blüten, Bohnen, Zucchetti und Artischocken. Was heute reif ist, steht morgen auf der Karte. «Unser Garten ist unser USP – und das Schönste, was man sich als Koch vorstellen kann», sagt Romer. «Wir richten uns nach dem, was da ist – nicht umgekehrt.»

«Unser Garten ist unser
USP – und das Schönste,
was man sich als Koch
vorstellen kann.»

Simon Romer, Küchenchef im Schloss Wartegg

Zusammenarbeit mit den Gärtnerinnen und Gärtnern prägt nicht nur den Menuplan, sondern auch die Einstellung des Teams: «Alle wissen, wie viel Arbeit im Garten steckt. Diese Wertschätzung spürt der Gast.» Die biodynamische Pflege des weitläufigen Parks umfasst auch eine kleine Schafherde, die für natürliche Bodenpflege und Dünger sorgt. Diese direkte Verbindung von Landwirtschaft und Küche fördert eine besondere Achtsamkeit: Wer sieht, wie aus einer seltenen ProSpecieRara-Sorte ein aromatisches Püree entsteht, geht mit den Produkten automatisch bewusster um und gibt diese Wertschätzung an den Gast weiter.

Die Menuplanung folgt keinem fixen Schema, sondern der Natur. Jeden Tag wird neu geschrieben. Auf der Mittagskarte steht bewusst nur «Gartengemüse» – was genau dahintersteckt, entscheidet die Ernte. Das mit 14 Gault- Millau-Punkten ausgezeichnete Restaurant bietet auch am Abend für alle etwas: eine vegane Vorspeise und Suppe, ein veganer Hauptgang und ein veganes Dessert sind Standard. Hotelgäste bekommen auf Wunsch ein komplett individuelles Menu – egal ob vegan oder vegetarisch. Doch es bleibt nicht beim Kochen. In der Schlossküche wird auch konserviert, fermentiert, eingemacht und experimentiert. Was der Garten im Überfluss liefert, wird haltbar gemacht: als Püree, Paste, Essigeinlage, Öl oder Kräutersalz. Eine Variante: pasteurisierte Babyranden im Sous-Vide-Beutel mit Aceto und Honig – als Beilage der kalten Vorspeise. «Wir versuchen, möglichst alles zu verwerten – Blatt, Wurzel, Knolle, Blüte», so Romer. «Man braucht einfach ein bisschen Fantasie. Und Freude am Produkt.»

Dabei kommen Röstaromen, Säure, Fermentation, Sous-Vide, Umami-Komponenten und überraschende Texturen ins Spiel. Tomaten bringen Süsse und Säure, Algen und Pilze liefern Tiefe, Wildkräuter sorgen für aromatische Komplexität. Die Experimentierfreude ist gross und sorgt für ganz spezielle Highlights: im Frühjahr erfreut das hausgemachte Spargel-Magnum mit Erdbeeren die Gäste. Im Sommer bietet der Wildkräutersalat «Wartegg» einekulinarische Reise durch den Garten. Auch der Herbst bringt spannende Ideen aus dem Schlossgarten auf den Teller: etwa Rettich-Dim-Sum als Vorspeise, gefolgt von BBQ-Aubergine mit Formanova-Rande, aus dem Schlossgarten, Couscous Brunnenkresse und Mandeln als Hauptgang.

Romer sieht im engen Einbezug der Ernte aus dem eigenen Garten nicht nur einen kulinarischen, sondern auch einen wirtschaftlichen Vorteil. Diese «hauseigenen Zutaten» bedeuten kurze Wege, weniger Food – Waste, geringere Einkaufskosten und ein Image, das sich von anderen Betrieben klar abhebt – ein Aspekt, den viele Gäste bewusst wahrnehmen und schätzen.

Wertschätzung beginnt im Garten

Der Garten ist dabei nicht nur Ursprung der Zutaten, sondern Teil eines geschlossenen Kreislaufs. Rüstabschnitte werden zu Brühen, überschüssiges Gemüse geht an die Mitarbeitenden. Was übrig bleibt, landet auf dem Kompost – und kehrt als Humus in den Garten zurück. Diese Haltung prägt nicht nur die Küche, sondern auch den Umgang mit den Gästen. Storytelling spielt eine zentrale Rolle: Gäste erfahren, woher das Pesto kommt, was in der Suppe steckt oder welcher Sirup aus den Gartenkräutern und Blüten gewonnen wurde. Das schafft Verbindung. Und Verständnis. «Unsere Gäste sehen das Gemüse im Garten und wenig später auf ihrem Teller. Sie schmecken, dass es frisch ist – und sie hören die Geschichte dazu. Das macht den Unterschied», so Romer.

Im Schloss Wartegg zeigt sich: Wer mit lokalen Zutatenarbeitet, Gemüse ganzheitlich verarbeitet und eigene Produkte konserviert oder weiterverwertet, spart Kosten – und schafft Angebote mit echtem Wiedererkennungswert, welche dem Foodtrend Vegourmet gerecht werden.

Dass es für diesen Wandel nicht gleich ein komplett neues Küchenkonzept braucht, sondern oft ein bewusstes Umdenken reicht, betont auch Ernährungshistoriker Dominik Flammer: «Statt zehn mittelmässiger Optionen reicht oft ein einziges, raffiniertes pflanzenbasiertes Gericht mit Charakter.» Im Interview auf Seite 26 betont Flammer das Potenzial einzelner pflanzenbasierter Gerichte – wenn sie mit handwerklichem Können und kreativem Anspruch zubereitet werden.

 

Vegourmet  –  Was hinter dem Foodtrend steckt

Dieser Trend steht für bewussten Genuss, ganz oder zeitweise ohne tierische Produkte – und zugleich für hohe kulinarische Ansprüche. Pflanzenbasierte Küche ist keine Einschränkung, sondern eine kreative Spielwiese: mit Tiefe, Handwerk und Geschmack ohne Kompromisse.
Was den Foodtrend auszeichnet:

  • Neugier auf neue Aromen: Tiefe, Textur und würziger Geschmack stehen im Zentrum – pflanzenbasiert, aber kompromisslos gut.
  • Wertschätzung für Handwerk: Fermentieren, Einmachen, Räuchern oder Slow Cooking – spezielle Techniken sind willkommenund erwünscht.
  • Fokus auf Herkunft und Saison: Regionale Vielfalt und Zutaten mit Geschichte sind wichtiger als Superfood aus Übersee.
  • Wissen, was enthalten ist: Herkunft, Verarbeitung und Wirkung der Produkte sind wichtiger als Labels und Siegel.
  • Inspiration aus aller Welt: Globale Küchentechniken treffen auf regionale, saisonale Zutaten.
  • Genuss mit Haltung: Vegourmet steht für bewusstes Essen und Geniessen, ohne zu missionieren. Was zählt, ist der Geschmack, nicht die Moral.

Dominik Flammer

Ernährungshistoriker und Autor

«Gemüse zu kochen, ist die Königsdisziplin»

Mehr als Beilage: Das Potenzial der pflanzenbasierten Küche – ein Kurzinterview mit Ernährungshistoriker und Autor Dominik Flammer.


Warum spielt pflanzenbasierte Küche heute eine grössere Rolle – gerade auch in der gehobenen Gastronomie?
Gemüse zuzubereiten erfordert Können. Fleisch gelingt heute mit Industriegeräten fast automatisch – Sous-Vide sei Dank. Aber aus Rande, Kohlräbli oder Lauch ein überzeugendes Gericht zu machen, braucht handwerkliches Geschick. Das erkennen auch immer mehr Spitzenköchinnen und -köche – und widmen sich dem Gemüse mit wachsender Hingabe.

Was kann die moderne Gastronomie von der traditionellen Esskultur der Schweiz lernen?
Sehr viel. Bis ins 20. Jahrhundert lebten viele Menschen weitgehend vegetarisch – Fleisch war selten. Dafür war die Vielfalt an Gemüsegerichten gross – schliesslich war das Gemüse im eigenen Garten kostenlos. Die Schweiz hat eine lange Fermentationstradition, vom Käse über Sauerkraut bis zu eingemachten Früchten und saurem Gemüse. Diese Techniken bieten auch heute enormes Potenzial.


Wo sehen Sie das grösste Potenzial für kreative Tiefe in der pflanzenbasierten Küche?
In der kreativen Veredelung von Gemüse. Ob Rande, Lauch oder neuerdings roter Rosenkohl oder Wassermelonenrettich: Gemüse erhält durch neue Sorten und Zubereitungen einen ganz neuen Stellenwert.

Wie verändert der Foodtrend Vegourmet die Gastronomie?
Der Einfluss ist subtil, aber spürbar. Auch wenn die Zahl vegan lebender Menschen wieder leicht zurückgeht, bleibt die Nachfrage nach kreativen pflanzenbasierten Gerichten hoch – vor allem von Flexitarierinnen und Flexitariern. Sie haben dazu beigetragen, dass die Gastronomie Hülsenfrüchte, Gemüse und Brot wieder stärker in den Fokus rückt. Und auf diese Gäste kann heute kein Betrieb mehr verzichten.

Halten Sie es für sinnvoll, vegane Gerichte auf der Speisekarte speziell zu kennzeichnen?
Wenn ein Gericht vegan ist, muss man es nicht extra dazuschreiben. Ein grüner Punkt reicht – Gäste sehen das. Wer vegan lebt, fragt sowieso nach. Wichtig ist, dass die Serviceangestellten gut informiert sind und flexibel auf Wünsche eingehen. In der Deutschschweiz und in Grossstädten funktioniert das inzwischen sehr gut.

Weiterführende Links:

Autorin: Laetitia Reiner