Unmengen Bier einkaufen und trinken, bis nichts mehr geht: Darauf beschränkte sich der Lebensinhalt eines an Demenz erkrankten Basler Ehepaars, er 82, sie 74. Im Alterszentrum, in dem beide seit Kurzem wohnen, zeigten sich die Folgen schnell: Im Zimmer lagen überall leere Flaschen herum, und auch sonst sah es chaotisch aus. Der Mann wie die Frau waren zudem gefährdet, zu stürzen und sich schwere Verletzungen zuzuziehen. Hinzu kam, dass sich die massiv trinkende Ehefrau bei der Körperpflege nicht mehr helfen liess und zunehmend aggressiv wurde. Während der Ehemann oft weinte, weil er sich für das Verhalten seiner Frau schämte. Dass es so nicht weitergehen konnte, war klar. Auch, weil die anderen Bewohnerinnen und Bewohner sich im Speisesaal oder in den Gemeinschaftsräumen wegen des trinkenden Ehepaars unsicher fühlten und Angst hatten.
Suchterkrankungen sind bei älteren Menschen eine verbreitete Problematik. Von chronisch-risikoreichem Alkoholkonsum sind sie sogar stärker betroffen als Jüngere (siehe Box I). Leben Menschen mit einer Abhängigkeit in Alterseinrichtungen, stellen sich eine Reihe von Fragen, die oft schwierig zu beantworten sind: Wann sollen Fachleute eingreifen? Wann wahren sie die Autonomie der Betroffenen? Nur dann, wenn der Alkoholkonsum risikoarm ist?
«Auch ältere Menschen sollen
die Möglichkeit haben, ihr
Konsumverhalten zu ändern –
wenn sie dies möchten.»
Oder auch dann, wenn die Trinkgewohnheiten einer Person gesundheitsgefährdend sind, diese aber selbstbestimmt jede Hilfe verweigert? Ein Dilemma, zumal die Grenzen zwischen risikoarmem Genuss und problema- tischem Konsum beziehungsweise Abhängigkeit fliessend und schwer zu erkennen sind.
Tabuisiert und bagatellisiert
«In diesem berufsethischen Spannungsfeld zu agieren, gehört zum pflegerischen und ärztlichen Alltag», sagt Olayemi Omodunbi, Projektleiterin beim Fachverband Sucht. In Alterseinrichtungen kommen jedoch weitere Aspekte hinzu. Etwa, ob eine alkoholabhängige Person urteilsfähig ist. Oder wie die älteren Menschen wahrgenommen werden. Deren Alkoholkonsum wird laut einer Publikation des Fachverbands Sucht oft tabuisiert oder bagatellisiert. Dies nach dem Motto: «Etwas zu unternehmen, lohnt sich in diesem Alter nicht mehr».
Das aber ist der falsche Ansatz: «Auch ältere Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihr Konsumverhalten zu ändern – wenn sie dies möchten», betont Olayemi Omodunbi. Zumal mangelnde Beratungsund Therapieangebote weiteren, berufsethischen Grundsätzen widersprechen, nämlich jenen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung.
Herausfordernd für alle
Alkoholabhängigkeit im Alter – damit setzt sich das Gustav Benz Haus in Basel intensiv auseinander. Die Verantwortlichen in dem städtischen Wohn- und Pflegezentrum wissen, wie herausfordernd die Problematik für alle Beteiligten sein kann. Allein bei der Frage, ob im Speisesaal Alkohol ausgeschenkt werden soll, können sich Konflikte entzünden. Eigentlich gibt es keinen Grund, jenen, die nicht suchtgefährdet sind, ein Glas Wein zum Essen zu verbieten. Möglicherweise aber fördert der Alkoholausschank den problematischen Konsum jener, die abhängig sind. «Wenn Suchtbetroffene und Nicht-Suchtbetroffene miteinander in einem Heim leben, benötigt es manchmal Regelungen, die nicht für alle angenehm sind», sagt Pflegedienstleiterin Linda Gotsmann. Beispielsweise kann es notwendig werden, mit der Küchenoder Hotellerieleitung Höchstmengen festzusetzen. Eine Reihe weiterer, schwieriger Situationen können hinzukommen. Wer abhängig ist und trinkt, gibt viel Geld für Alkohol aus. Das kann zu finanziellen Engpässen führen und damit zu Problemen, das Leben im Heim zu finanzieren. Frust und Aggression sind oft die Folge. Menschen mit einer Suchterkrankung laufen zudem Gefahr, sich zu vernachlässigen, weshalb sie von den anderen Heimbewohnern schnell ausgegrenzt werden. Auch kann es vorkommen, dass Betroffene in der Stadt umherirren und nicht mehr ins Heim zurückfinden. Und schliesslich stellen Suchterkrankungen die Mitarbeitenden vor heikle und manchmal unlösbare Fragen: Was tun, wenn jemand nicht mehr zugänglich ist und um sich schlägt?
ALKOHOLKONSUM IM HÖHEREN ALTER
Ein Viertel aller Personen im Rentenalter konsumiert täglich oder fast täglich Alkohol. Rund 7 Prozent der Männer und rund 6 Prozent der Frauen weisen einen chronisch-risikoreichen Alkoholkonsum mit mittlerem oder hohem Gesundheitsrisiko auf. Dies geht aus Gesundheitsbefragungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) hervor. Die Gründe sind – wie in allen Altersgruppen – vielfältig. Bei älteren Menschen können Aspekte wie Einsamkeit und Leere hinzukommen oder kritische Lebensereignisse wie Pensionierung, Verlust eines nahestehenden Menschen, Krankheit, Schmerzen, Wohnortwechsel oder Eintritt in eine Altersinstitution. Werden diese Belastungen nicht anders aufgefangen, kann verstärkter Substanzkonsum die Folge sein. Rund ein Fünftel der Personen ab 55 Jahren kombiniert Alkohol mit Medikamenten, was nach Angaben des Branchenverbands Curaviva zusätzliche Risiken birgt. Vor allem dann, wenn täglich zwei oder mehr Gläser Alkohol konsumiert werden. Alkohol und Medikamente wirken in einem älteren Körper stärker, weil dessen Flüssigkeitsanteil geringer ist und die Leber mehr Zeit braucht, die Substanzen abzubauen.
Mitarbeitende unterstützen
Um hier angemessen handeln zu können, hat das Gustav Benz Haus zusammen mit dem Fachverband Sucht ein Betreuungskonzept erarbeitet (siehe Box II). Wichtiger Punkt: Alle Mitarbeitenden werden in ihrer täglichen Arbeit unterstützt und entsprechend weitergebildet. Nach Angaben von Linda Gotsmann ist dabei der fachübergreifende Austausch ein wesentlicher Punkt. Dafür wird regelmässig genügend Zeit eingeplant, um einzelne Fälle zu besprechen und passende Interventionen festzulegen. Dabei können externe Fachleute beigezogen werden.
«Eine wertschätzende
Haltung ist wichtig. Dazu
gehört das Recht auf Selbstbestimmung
und Genuss.»
Im Konzept ist ein weiterer wesentlicher Aspekt festgeschrieben. «Eine wertschätzende Haltung ist wichtig. Dazu gehört das Recht auf Selbstbestimmung und Genuss», sagt Linda Gotsmann. Was heisst: Alkoholkonsum ist akzeptiert, verboten wird es niemandem. Eingeschritten wird nur bei selbst- oder fremdgefährdetem Verhalten.
«Gemeinschaft ist ein
wichtiger Schutzfaktor
für abhängigkeitsgefährdete
Menschen.»
Das Gustav Benz Haus ist zudem von folgendem Grundsatz überzeugt: «Gemeinschaft ist ein wichtiger Schutzfaktor für abhängigkeitsgefährdete Menschen », erläutert Stefanie El Bettah, Pflegefachverantwortliche im Gustav Benz Haus. Deshalb werde niemand stigmatisiert oder isoliert, alle werden integriert. Beim betroffenen Ehepaar war dieser Ansatz hilfreich. Seither sind beide gerne beim gemeinsamen Singen oder Kochen dabei oder beschäftigen sich mit dem «Therapiehund». Die anderen Mitbewohnenden erleben das Ehepaar als zugänglich und freundlich. Auch stehen regelmässige Termine für Coiffeur- und Pediküre- Besuche an. Zusammen wurde mit dem Beistand und der Hausärztin das Taschengeld reduziert und ein Alkoholentzug vereinbart. Trinken ist seither kein Thema mehr. Stattdessen sind es jetzt täglich ein paar Tassen Kaffee mehr.
LEITFÄDEN FÜR PFLEGEEINRICHTUNGEN
Die Konzepte «Genuss, Suchtmittelkonsum und Abhängigkeit in Alterszentren» sowie «Früherkennung und Frühintervention (F+F) bei älteren Menschen in einer Altersinstitution» dient Mitarbeitenden aus Pflege und Betreuung, Aktivierung sowie Hotellerie und Küche als Leitfaden im Umgang mit suchtgefährdeten oder abhängigen älteren Menschen. Detaillierte Informationen vom Fachverband Sucht.
Weitere Anlaufstellen und Info-Plattformen:
- www.curaviva.ch (Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter)
- www.infodrog.ch (Schweizerische Koordinationsund Fachstelle Sucht)
- www.alterundsucht.ch (Wissensplattform für ältere Menschen, Angehörige und Fachpersonen)