
In der Schweiz sind aus der herbstlichen Küche Kastanien kaum wegzudenken. Besonders im Tessin haben sie eine lange Geschichte – einst als Überlebensnahrung, heute als kulinarischer Fixpunkt der «Castagnatas», mit denen der Herbst eingeläutet wird. Buchautorin Erica Bänziger, die in der Nähe von Verscio TI lebt, kennt diese Kultur aus nächster Nähe. In ihrem Garten stehen zwei Edelkastanienbäume. «Ich sammle die Früchte, brate sie auf dem offenen Feuer und trinke dazu gerne ein Glas Rotwein», erzählt sie.

«Ich sammle die Früchte,
brate sie auf dem offenen
Feuer und trinke dazu gerne
ein Glas Rotwein.»
Rezeptvielfalt
Dass Kastanien mehr können als Vermicelles oder Wildbeilage, zeigt ein Blick in Erica Bänzigers Rezeptbuch. Darin finden sich Kastanien-Spätzli, Pasta mit Kürbis und Kastanien, eine provenzalische Kastaniensuppe oder ein Ragout mit Salbei. Aber auch überraschende Kreationen wie Kastanienblinis, Kastanien-Tiramisu oder ein Aufstrich mit Kastaniencreme. «Selbst Burger lassen sich daraus machen», sagt die Buchautorin. Bei vegetarischer oder veganer Kost sei die nährstoffreiche Frucht ein beliebter Fleischersatz. Tatsächlich bringt die braune Nussfrucht alles mit, was eine zeitgemässe Zutat auszeichnet: Sie ist glutenfrei, also auch für Menschen mit Zöliakie eine Option. Die Früchte sind leicht verdaulich, enthalten hochwertige Kohlenhydrate und viele Nahrungsfasern. Zudem versorgen sie den Körper mit Kalium, Magnesium sowie B-Vitaminen und enthalten Tryptophan. Die Aminosäure hebt den Spiegel des «Glückshormons» Serotonin an – ähnlich wie Schokolade.

Ernte vom Zürichsee
Die wärmeliebenden Edelkastanien reifen nicht nur im Süden. Auch nördlich der Alpen gibt es Anbaugebiete – etwa in Au am Zürichsee. Hier hat der Familienbetrieb Brändli Obst- und Weinbau 2003 vier Bäume gepflanzt. 2017 wurde die Anlage mit 19 Bäumen erweitert. «Für uns war das ein Schritt in Richtung mehr Ökologie und Nachhaltigkeit», sagt Philipp Brändli, das jüngste Mitglied des Betriebs.
Ein Vorteil sei der Standort am See mit seinem milden Klima. Hier gedeihen die Bäume besonders gut, zudem schützt die Seenähe vor Spätfrost. Im Jahr 2024 konnte der Betrieb bereits 550 Kilogramm der Früchte ernten. Für die Folgejahre rechnet Philipp Brändli mit einem starken Anstieg dieser Menge. Denn die 2017 gepflanzten Bäume tragen jetzt vermehrt Früchte und sind zudem noch im Wachstum.

«Im Winterhalbjahr
bieten wir heisse Marroni
als Apéro an.»
Vermarktet werden die Edelkastanien über den Hofladen, lokale Detaillisten sowie den hofeigenen Gasthof Oberort. Im Winterhalbjahr gibt es heisse Marroni als Apéro. Doch die Pläne reichen weiter: karamellisierte Kastanien, Kastanienlikör – vieles ist denkbar, sobald die Erntemengen weiter steigen. Philipp Brändli sieht auch Kooperationen mit der Gastronomie: «Sie könnten enger mit lokalen Produzenten zusammenarbeiten, und gemeinsam liessen sich beispielsweise Marronifeste organisieren.»
«Kastanien sind edel –
sie machen selbst aus
einem einfachen Brötchen
etwas Besonderes.»

Edel und mit feiner Textur
Die Edelkastanie bereichert die professionelle Kulinarik und zeigt dabei ihre Vielseitigkeit. Die Basler Bäckerei «Glutenfreie Köstlichkeiten» verwendet Kastanienmehl für spezielle Backmischungen. «Das Mehl verleiht dem Brot einen leicht nussigen Geschmack und eine feine Textur», sagt Geschäftsleiterin Kathrin Kasper. Die Backwaren sind bei Kundinnen und Kunden beliebt, die wegen Unverträglichkeiten auf herkömmliches Mehl verzichten oder neue Geschmackserlebnisse suchen. Jede glutenfreie Mischung sei zwar eine Herausforderung und müsse individuell entwickelt werden, doch der Aufwand lohne sich. Produkte aus Kastanienmehl können nicht nur das klassische Sortiment auf dem Frühstücksbuffet bereichern, sondern auch optisch Akzente setzen. Kathrin Kasper: «Kastanien sind edel – sie machen selbst aus einem einfachen Brötchen etwas Besonderes».

Dezent und unwiderstehlich
Auch in der kreativen Gastronomie werden Kastanien eingesetzt. Das Küchenteam des Restaurants Magdalena in Rickenbach SZ, bekannt für seine neu interpretierte, gemüsebasierte Küche, verwendet die Baumfrüchte gern in den Menüs. «Kastanien finden bei uns vielseitige Verwendung – ihre cremige Art macht sie zu einer spannenden Zutat mit natürlicher Geschmacks- und Texturkomponente», schildert Marco Appert, Geschäftsführer & Mitinhaber der Magdalena AG.

«Ihre cremige Art macht sie
zu einer spannenden Zutat
mit natürlicher Geschmacksund
Texturkomponente»
Perfekt sei die Kombination mit saisonalem Wurzelgemüse oder Pilzen, und reizvoll der dezent süsslich-nussige Geschmack in Verbindung mit der feinen, cremigen Konsistenz. Bei den Gästen beliebt ist unter anderem der Dashi-Flan mit gebratenen Morcheln, Kastaniencreme, frischen und grillierten Erbsen und einem Ingwersud. Die Kastanien bleiben dezent im Hintergrund und verleihen dem Gericht gleichzeitig die unwiderstehliche Note nach modern interpretiertem Herbstgenuss.
Was ist der Unterschied zwischen Edelkastanien und Marroni?
Beides stammt vom gleichen Baum: der Edelkastanie (Castanea sativa). Der Begriff Marroni bezeichnet dabei gezüchtete Sorten mit grösseren, runderen Früchten und leichter zu lösender Schale. Sie lassen sich besser rösten und schmecken süsser. In der Alltagssprache werden beide Begriffe oft synonym verwendet – korrekt ist: Jede Marroni ist eine Edelkastanie, aber nicht jede Edelkastanie ist eine Marroni.