Gastronomie Bettina Kälin 08.11.2019

Von der Schnauze bis zum Schwanz

In der Freibank im Berner Wankdorf kommen jene Fleischstücke auf die Karte, die anderswo niemand will. Das Nose-to-Tail-Konzept funktioniert dank engagiertem Team und viel Herzblut.

Chefkoch Adrian Urfer schneidet die frischen Kräuter für das Mittagsmenü des Restaurants «Freibank – Speis & Trank» direkt ab den farbigen Pflanzcontainern auf der Terrasse. Bald wird es hier beim Waaghaus im Berner Wankdorf hoch zu und her gehen. Die Bürokomplexe der SBB und der Post befinden sich in Gehnähe, gegen Mittag zieht es viele Angestellte in die Freibank. «Innerhalb von ein bis zwei Stunden schicken wir 80 Mahlzeiten aus der Küche», sagt Urfer und betrachtet seine Kräuterausbeute. Zufrieden macht er sich auf in die kleine Küche im Untergeschoss.

Geschichte weiterleben
Im Innern des historischen, über 100-jährigen Waaghauses besprechen die beiden Geschäftsführer Adrian Wittwer und Florian Jenzer die letzten Punkte. Eine grosse Gesellschaft wird erwartet, heute packen alle mit an. Seit Sommer 2017 engagieren sich die beiden Herzblut-Gastronomen mit Leib und Seele für die Freibank. Als Gesellschafter der gemeinsamen Firma Eggstern & Partner sind auch Martin Hofer und Jürg Wirz mit an Bord, jedoch nicht operativ tätig. «Wir möchten die Geschichte dieses Ortes weiterleben»,
erklärt Florian Jenzer. Wo heute eine gemütliche Holzbank, schicke Blumentöpfe und Sonnenschirme zum Verweilen einladen, wurde einst das Vieh auf der grossen
Waage des Schlachthofareals gewogen. Über die Freibank im Waaghaus wurden die nicht bankwürdigen Fleischstücke, also Teile aus Notschlachtungen und Stücke zweiter Klasse, zu einem niedrigen Preis verkauft.

«Wir möchten die Geschichte dieses Ortes weiterleben.»

Florian Jenzer
Geschäftsführer Freibank

Kommunikation ist alles
Bauch, Schultern, Zunge: Nose to Tail heisst das Prinzip der ganzheitlichen Schlachtverwertung. Die Freibank-Küche kauft jene Fleischstücke ein, die in grossen Mengen vorhanden, aber kaum nachgefragt werden, und kreiert neue, ansprechende Varianten von traditionellen Rezepten. «Die Hälfte eines Tieres wegzuschmeissen, ist ein  ohlstandsproblem», stellt Florian Jenzer fest. «Mit der Nose-to-Tail-Philosophie wirken wir gegen den Trend der Wegwerfgesellschaft und sensibilisieren die Gäste für einen ewussteren Konsum.» Tatsächlich komme der Ansatz bei den Gästen sehr gut an. Der Geschäftsführer und Koch erklärt, warum: «Es ist wichtig, Vertrauen aufzubauen. Und wir müssen vor allem im Service immer wieder kommunizieren, weshalb wir beispielsweise Zunge als Tagesmenü servieren.» Zum Vertrauensverhältnis gehört auch, dass alle in der Freibank per Du sind.

 

Traditionelles modern zubereitet
Während die ersten Gäste eintreffen, steigen wir die steinerne Aussentreppe hinab in die kleine Küche. Zu Beginn kochte hier Florian Jenzer selbst, jetzt entlastet Adrian Urfer als Chefkoch das Team. Beide, der neue und der alte Koch, teilen dieselben Wertvorstellungen. «Bei Adrian kann ich sicher sein, dass er nie ein Filet oder so einkaufen würde», sagt Florian Jenzer. Der Angesprochene antwortet: «Nie! Da käme ich gar nicht auf die Idee!» In seltenen Fällen kommen Edelstücke doch auf die Menükarte der Freibank – dann
nämlich, wenn anlässlich einer Metzgete ein ganzes Tier verwertet wird. Statt Entrecôte gart also heute die Rinderbrust im Sous-vide-Bad. «Wir bereiten traditionelle Gerichte mit modernen Methoden zu», erklären die Köche. Viele aufwendige und daher für die Gastronomie ungeeignete Rezepte von früher liessen sich heute dank modernen Maschinen viel besser realisieren und sogar verbessern. «Wobei», so räumt Florian Jenzer ein, «Nose to Tail ist oft reines Ausprobieren und Testen. Nicht alles gelingt heute besser.» So oder so brauche es für die Modernisierung der Rezepte viel Mut und Kreativität. Denn das Auge isst mit. «Auch Zunge kann man ansprechend zubereiten und hübsch anrichten, das ist kein Problem.»

«Wir bereiten traditionelle Gerichte mit modernen Methoden zu.»

Florian Jenzer

Wenig Platz für Vorräte
Obwohl hochmodern eingerichtet, bietet die Freibank-Küche nicht viel Platz. Der Vorratsraum ist überschaubar. «Das macht vieles einfacher», ist Jenzer überzeugt. «So sind wir gezwungen, alles frisch einzukaufen.» Jedes der Gerichte wird so konzipiert, dass es auch noch an den Folgetagen geniessbar ist. Auch dadurch reduziert das Freibank-Team den Food Waste. Frisch sind auch die gelben Butterbohnen, die Adrian Urfer gerade rüstet. «Die habe ich heute Morgen aus dem Garten meiner Eltern geholt.» Lokale Produkte gehören zur Freibank-Philosophie. So stammt das Fleisch von einer regionalen Metzgerei oder von einem Bauernbetrieb im Emmental. Florian Jenzer besucht seine Lieferanten persönlich und achtet dabei weniger auf Biolabels als vielmehr auf die Art und Haltung der Tiere. «Man sieht einem Hof sofort an, ob es die Tiere schön haben und die Biowerte gelebt werden.»

«Wir wollen nicht, dass die Leute mehr Fleisch essen. Sie sollen nur bewusster essen.»

Florian Jenzer

Für Vegis und Fleischesser
Die Menükarte der Freibank ist kurz. Ein Tagesmenü mit Fleisch, ein Tagesmenü für Vegis, ein paar Salate oder Spezialitäten. Die straffe Karte schaffe mehr Abwechslung
– auch für die Küche. Tatsächlich empfindet Adrian Ufner die Menügestaltung für das vegetarische Menü als die herausforderndste. «Vegis sollen ein gleichwertiges Gericht erhalten und nicht nur Gemüse aufgetischt bekommen.» Denn in der Freibank sei der Fleischkonsum zwar zentrales Thema, aber eben nicht das einzige. Florian Jenzer sagt: «Wir wollen nicht, dass die Leute mehr Fleisch essen. Sie sollen nur bewusster essen und wertschätzen, was man hat.» Doch der typische Freibank-Gast isst zu Mittag, trinkt einen Kaffee und geht innerhalb einer Stunde wieder. Da bleibt nicht viel Zeit für Gespräche über Nachhaltigkeit und Nose to Tail. Um die Kommunikation mit den Gästen zu erleichtern, beteiligt sich
die Freibank am Projekt lunchidee, das mit wechselnden Mittagsmenü-Themen für bewusste Esskultur sensibiliseren will (vgl. Seite 6). «Wir möchten die breite Masse ansprechen und weniger jene, die sich schon bewusst ernähren.» Und dafür brauchts paradoxerweise Zeit und Geduld.

Engagement und Herzblut
Geduld haben Florian Jenzer und sein Geschäftspartner Adrian Wittwer. Das ganze Restaurantkonzept ist langfristig und umweltfreundlich gedacht. Seit dem ersten Tag unterstützt die Freibank das soziale Engagement WfW – «Wasser für Wasser» – und ist bei zahlreichen Nachhaltigkeitsprojekten und Events dabei. «Solche Engagements brauchen sehr viel Zeit und Herzblut, aber wir sind überzeugt, dass das der richtige Weg ist», sagt Jenzer. Neue Wege gehen, mutig sein und ausprobieren, das sei die Devise. In Zukunft möchten die beiden Geschäftsführer deshalb die Öffnungszeiten ausbauen. Der Abend soll stärker ausgelastet werden können. Und auch am Wochenende möchten die beiden mehr Events und Gesellschaften anziehen. Dank Geduld und einem guten Konzept sprechen sie so mehr und mehr Gäste aus dem Stadtzentrum an und gewinnen Stammgäste, die auch jenseits
der Bürozeiten gerne vorbeischauen.

Einfach damit starten
Für die Freibank, mitten im modernen Wankdorf, funktioniert das Nose-to-Tail-Konzept. Doch lässt sich die Idee auch für andere Gastronomiebetriebe übernehmen? Davon ist Florian Jenzer überzeugt. «Man muss ja nicht gleich die ganze Küche von einem Tag auf den anderen umkrempeln. Es reicht, anfangs mit einfachen Rezepten zu starten, die die Gäste noch von ihren Grosis kennen.» Ein Schmorbraten zum Beispiel rufe zudem positive Erinnerungen hervor. Auch eine gute Möglichkeit sei es, anfangs Optionen anzubieten:
zum Beispiel ein klassisches Züri Gschnetzeltes und eines ohne Nierli. Die Gäste können so selbst entscheiden, wie experimentierfreudig sie sind. «Leider haben heute die meisten Leute kaum mehr Zeit zum Kochen und kennen vieles gar nicht mehr. Sie müssen sich erst wieder an den Geschmack der traditionellen Gerichte gewöhnen.»
 

FLORIAN JENZERS EINFACHES REZEPT FÜR NOSE-TO-TAIL-NEULINGE

Schweinebauch: Es empfiehlt sich, beim Metzger den Schweinebauch (Schweinsbrust) ohne Knochen und Knorpel vorzubestellen.

Vorbereitung
Schweinsbrust auf Knorpel kontrollieren und auf der Fettseite rauteförmig einschneiden. Die Schwarte nach Belieben wegschneiden.

Zubereitung
1. Den Schweinebauch überall gleichmässig mit Zucker und Salz einreiben.
2. Im Ofen bei 250 Grad 20 Minuten goldbraun anbacken oder in der Bratpfanne einige Minuten anbraten. Ofen runterkühlen auf 130 Grad.
3. Schweinebauch in eine ofenfeste Form legen und mit Alufolie abdecken.
4. In der Mitte des Ofens bei 130 Grad ca. 2 Stunden backen.

Alternativen
Statt mit Zucker und Salz den Schweinebauch vor dem Garen mit einer Marinade einreiben. Er kann auch sous-vide zubereitet werden:
1. 24 Stunden in Salz-Zucker-Lake einlegen.
2. 24 – 36 Stunden bei 65 Grad ins Sous-vide-Bad legen.
3. Im Ofen bei 250 Grad 20 Minuten goldbraun anbacken oder in der Bratpfanne einige Minuten anbraten.

Bettina Bellmont

Autorin: Bettina Kälin