
In der Schweiz wird so viel Schaumwein getrunken wie noch nie. 19,3 Millionen Liter waren es im letzten Jahr. Schweizer Produzenten hätten den Trend unterschätzt, sagt einer von ihnen.

Die gesellschaftliche Liberalisierung brachte die Wende. Seit den 1960er-Jahren entwickelten die jüngeren Generationen einen entspannteren Umgang mit Alkohol als ihre Vorfahren. Allen Unkenrufen zum Trotz wird seither in Europa jedoch langsam, aber stetig weniger Alkohol getrunken. Auch in der Schweiz.
Hierzulande hat allein der Weinkonsum in den letzten zehn Jahren um knapp 10 Prozent abgenommen, beim Rotwein sind es gar mehr als 14 Prozent. Anders beim Perlwein. Laut der Eidgenössischen Zollverwaltung werden aktuell fast 20 Millionen Liter Schaumwein pro Jahr importiert, etwa 40 Prozent mehr als im letzten Jahrzehnt. Mehr als die Hälfte davon stammt aus Italien. Die jährlichen Proseccoimporte sind seit der Jahrtausendwende von 4 auf über 10 Millionen Liter gestiegen. Trotzdem konnte der wesentlich teurere französische Champagner mit 5 Millionen Litern seine Stellung halten. Stabil sind auch die Importe von deutschem Sekt und spanischem Cava geblieben. Der Prosecco hat wohl die Massen erobert, aber nicht zulasten der Schaumweine anderer Herkunftsländer. Die Schweiz scheint in Partystimmung zu sein. Ob ein bisschen Italianità zum Apéro oder ein edles Getränk zum guten Essen – die Schaumweinwelle ebbt nicht ab.
Auch Schweizer Weinproduzenten reiten auf dieser Welle, allerdings auf noch bescheidenem Niveau. Von den etwa 25 Millionen Schaumweinflaschen, die im vergangenen Jahr in der Schweiz entkorkt wurden, stammten lediglich fünf Prozent aus heimischer Produktion. Einer, der sich mit der Herstellung von Schaumwein auskennt, ist Jérôme Leupin, seit einem Jahr Direktor der Cave de Genève in Satigny.
Baccarat – die Mousseux-Linie aus Genf
Im Jahr 1929 gründeten einige Genfer Winzer die kleine Kooperative La Cave de la Souche. Aus dieser Initiative entwickelte sich nach einer bewegten Geschichte die heutige Cave de Genève, deren Hauptgeschäft die Umwandlung von Trauben in Wein und dessen Verkauf ist. Rund 3000 Tonnen Trauben werden hier jährlich verarbeitet, gelagert und vertrieben. Darunter auch die vier Schaumweine der Linie Baccarat, die ausschliesslich aus Genfer Trauben hergestellt werden. Gute Schweizer Produkte aus einer Weingegend, die bei Konsumentinnen und Konsumenten noch weitgehend unbekannt ist und doch mit sehr guten Weinen überrascht.
Mit ca. 150’000 Flaschen pro Jahr ist die Cave de Genève eines der bedeutenden Mitglieder der Schweizer Schaumweingilde. Nur wenige Produzenten stellen Schaumwein in grösseren Mengen her. «Die Schweizer Produzenten haben den Schaumweintrend unterschätzt», sagt Jérôme Leupin. «Heute ist der Anbietermarkt praktisch gesättigt.»
«Die Schweizer Produzenten haben den Schaumweintrend unterschätzt.»
Hohe Hürden für Einsteiger
Durch die massiven Importe von preisgünstigem Schaumwein aus Italien sind die Eintrittsbarrieren für Neueinsteiger sehr hoch. Die Herstellung von Schaumwein ist viel komplexer als die von normalem Wein. Es braucht viel Know-how und Erfahrung sowie hohe Investitionen in die nötige Infrastruktur. Und wer die traditionelle «Méthode Champenoise» für die zweite Gärung anwendet, bindet während mehrerer Jahre viel Kapital an seinen Weinkeller.
Die Konkurrenz durch ausländische Produkte ist extrem stark. Die Cave de Genève kämpft mit ihrem Baccarat bewusst im mittleren Preissegment. Mit einem günstigen Produkt, das mit seiner lieblichen Restsüsse den Geschmack der Kunden getroffen hat und sich optisch schön präsentiert, wie Jérôme Leupin sagt. Doch das Risiko bleibt: Fällt in einem Jahr die Ernte gering aus, können Schweizer Hersteller die Preise nicht erhöhen. Die Konsumentin oder der Konsument wechselt sofort zu preisgünstigen ausländischen Produkten.
Die Lust auf Bläschen ist ungebrochen
«Der Konsum verschiebt sich seit einigen Jahren vom schweren Rotwein zu leichteren Weinen mit weniger Alkohol», erklärt Jérôme Leupin. «Schaumweine gehören klar in diese Kategorie, denn dank dem Kohlensäure-Effekt geben sie das Gefühl, etwas Leichteres zu trinken.» In seiner früheren Tätigkeit bei einem bedeutenden Schweizer Grosshändler hat Leupin miterlebt, wie vor etwa acht Jahren der Abverkauf von Prosecco und Aperol zu explodieren begann.
«Der Konsum verschiebt sich seit einigen Jahren vom schweren Rotwein zu leichteren Weinen mit weniger Alkohol.»
Prosecco und Mixgetränke auf Sektbasis sind heute der Standard-Apéritif. «Die Lust auf die kleinen Bläschen im Glas ist ungebrochen, vor allem beim weiblichen Publikum zwischen 25 und 40», sagt Jérôme Leupin. Im Handel sind Schaumweine in allen Preisklassen zu finden, vom Einstiegsprosecco für unter 8 Franken bis zum zehnmal teureren Champagner. Selbst französische Edelmarken versuchen seit geraumer Zeit, durch gezielte Sonderangebote in den Schweizer Detailhandel einzudringen, um ihre Verkaufszahlen zu halten.
Champagner bleibt ein Luxusprodukt
«Prosecco ist klar der Weltmarktleader, er ist günstig und beliebt. Persönlich finde ich aber, dass es nicht viele gescheite Proseccos gibt», erklärt der Sternekoch Antonio Colaianni, seit 2017 Chef der Gastronomie im Restaurant Gustav in Zürich. «Champagner ist immer noch das höchste der Gefühle. Und das hat seinen Preis.» Colaiannis Lokal liegt im neuen Trendquartier Europaallee gleich neben dem Hauptbahnhof. Zwölfstöckige Büro- und Wohntürme aus Beton und Glas prägen die Stadtlandschaft, kleine exklusive Boutiquen, Barbershops und Restaurants locken Flanierende an. Alles sehr urban, sehr lässig, sehr speziell und sehr teuer.
«Persönlich finde ich, dass es nicht viele
gescheite Proseccos gibt.»
Für Antonio Colaianni ist Champagner ein Produkt, das vom Apéritif bis zum Dessert als Essensbegleiter locker mithalten kann. Zusammen mit seinem Sommelier Stefan Hiersemann hat er mehr als 120 Champagner in seinen Weinkeller gelegt. Zwei Drittel davon sind Winzerchampagner – von eher kleinen Produzenten, denen Qualität wichtiger ist als Quantität. Denn die Kleinen setzen im Champagnergeschäft die Grossen unter Druck. Diese reagieren wiederum mit Steigerung ihrer Qualität.
Im Restaurant Gustav sind die Preise knapp kalkuliert. Der Gast bezahlt für die edlen Getränke zwischen 80 und 500 Franken pro Flasche. Im Keller liegen auch Raritäten, die bis zu 700 Franken kosten. Denn Champagner bleibt trotz tiefen Margen ein Luxusprodukt für eine eher gut betuchte Klientel.
Diese schätzt das Angebot im «Gustav». Während eines Essens kann locker eine Flasche Champagner pro Person konsumiert werden. «Champagner hat eine wunderschöne Leichtigkeit, er macht nicht müde und das Essen verdaulicher», sagt Stefan Hiersemann. Und er verschweigt nicht, dass ein guter Schaumwein zum Trinken animiert. Rotwein wird kaum in diesen Mengen konsumiert. «Champagner muss sich bewegen», erklärt Antonio Colaianni, «lieber mehr Champagner verkaufen als bei einer Flasche Rotwein stehenbleiben.»
«Champagner hat eine wunderschöne
Leichtigkeit, er macht nicht müde und
das Essen verdaulicher.»

Edelschaumweine auch aus der Schweiz?
Im «Gustav», auf der wohl grössten Champagnerkarte der Schweiz, steht kein einziges Schweizer Produkt. «Das ändern wir», wirft Antonio Colaianni ein. «Es braucht ein bisschen Zeit, um eine gute Karte zusammenzustellen.» Italienische Spitzenprodukte werden bereits angeboten, Schaumweine aus Österreich, Deutschland, Spanien, aus der Schweiz und sogar aus England sollen folgen. Antonio Colaianni hat in der Schweiz auch schon einige kleine Produzenten aufgespürt, deren Produkte seinen Ansprüchen genügen. «Wir haben die Freaks, die zu uns kommen, weil sie hier interessante Spitzenprodukte finden, die sie sonst nirgendwo anders kriegen. Was es kostet, ist egal.» Qualität und vor allem Individualität ist das, was Stefan Hiersemann seinen Gästen anbieten will: Produkte, die für sich selber stehen, eine eigene Identität haben und preislich fair kalkuliert sind. Das ist sein Erfolgsrezept.
Hält die Schaumweinwelle an?
Antonio Colaianni und Stefan Hiersemann verstehen sich als Missionare. Sie sehen es als ihre Aufgabe, den Champagner weiter zu fördern. Sie sind überzeugt, dass das Interesse an bekömmlichen Speisebegleitern beim Gast gross ist, und dass dieser Trend nicht so schnell abflachen wird. Dabei werden edle Schaumweine mehr als früher eine wichtige Rolle spielen.
Ähnlich tönt es bei Jérôme Leupin: «Der Fitness- und Wellnesstrend prägt den Konsum. Die Tendenz zu leichten Weinen mit wenig Alkohol ist erst am Anfang. Und Swissness wird immer mehr gefragt, die Regionalität ist bei Konsumentinnen und Konsumenten heute entscheidend.» Mit einer nationalen Werbekampagne will die Cave de Genève im nächsten Jahr ihren Baccarat einem breiten Publikum vorstellen.