Heime & Spitäler Vera Sohmer 28.02.2025

Wie Architektur gesund macht

Den medizinischen und den menschlichen Bedürfnissen gerecht werden:
Healing Architecture stellt das Wohlbefinden von Patienten, Personal
und Angehörigen in den Mittelpunkt.

Frische Luft und Sonnenlicht waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentrale Faktoren, um Erkrankte von schweren Symptomen zu befreien. Die Alpensanatorien in Davos und St. Moritz sind Zeugen dieser Zeit. Sie entstanden im Zuge der Heliotherapie gegen Knochentuberkulose. Medikamente wie Antibiotika und neue Operationstechniken liessen die gesundheitsfördernde Umgebung in den Hintergrund treten. «Spitäler wurden unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nach ähnlichen Kriterien geplant wie eine Fertigungsstrasse in einer Fabrik», erläutert Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Monika Kritzmöller. Die medizinische Qualität sei dankenswerterweise markant angestiegen. «Auf der Strecke blieb hingegen oftmals das Bewusstsein, dass lebendige Menschen die Klientel dieser Einrichtungen sind und nicht effizient zu bearbeitende Werkstücke.»

 

Bezug zur Natur

Die in den 1970er-Jahren entstandenen Spitalbauten erfüllen die heutigen Anforderungen nicht mehr. Bei Um- und Neubauten rückt ein Konzept in den Vordergrund, welches die emotionalen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten berücksichtigt. Aber auch die des Personals und der Angehörigen. Healing Architecture, heilende Architektur, ist der Fachbegriff dafür. Im deutschsprachigen Raum hat die Münchner Architektin Christine Nickl-Weller diesen Planungsansatz bekannt gemacht. Ein wichtiger Punkt ist dabei der Bezug zur Natur.

«Der erste Eindruck zählt, auch im Spital.»

Seraina Wälchli, Teamleiterin Patientenaufnahme

Nicht umsonst wird darauf geachtet, Ausblicke ins Grüne zu ermöglichen und das gesamte Areal mit Bepflanzungen und Grünzonen in die Gestaltung einzubeziehen. Christine Nickl-Weller hat unter anderem den aus viel Holz und Glas bestehenden Neubau «Agnes» des Kantonsspitals Baden (KSB) entworfen. Er wurde vergangenen Monat nach mehrjähriger Bauzeit eröffnet. Ein wesentlicher Punkt war, viel Tageslicht in das Gebäude zu bringen. Den Patienten, Gästen und Mitarbeitenden stehen lichtdurchflutete Begegnungszonen zur Verfügung. Acht begrünte Innenhöfe dienen als Treffpunkte und Ruheoasen. Im Empfangsbereich wurde ebenfalls auf eine einladende Atmosphäre Wert gelegt. «Der erste Eindruck zählt, auch im Spital», sagt Seraina Wälchli, Teamleiterin Patientenaufnahme. Wer das neue Gebäude betritt, soll sich wohlfühlen und darauf vertrauen können, in guten Händen zu sein.

 


Gefühl von Alltag und Normalität

Viel Tageslicht und ein maximaler Bezug zur Natur sind auch bei den Neubauten des Kantonsspitals St. Gallen (KSSG) wesentliche Kriterien. Dies betont der verantwortliche Architekt, Fawad Kazi. Realisiert wurde unter anderem ein grosszügiger Dachgarten, der allen zur Verfügung steht. Um Begegnungszonen ausserhalb der Patientenzimmer zu ermöglichen, gibt es zudem eine grosszügige Lobby, Patientenlounges auf jeder Bettenstation, ein Café und ein Restaurant.
 

«Die zentrale Eingangshalle liegt im Zentrum des gesamten Areals. Die meisten Wege führen somit dorthin.»

Fawad Kazi, Architekt Neubauten KSSG

Diese Infrastruktur soll den Austausch in angenehmer Umgebung ermöglichen, ein Gefühl von Alltag und Normalität vermitteln sowie für etwas Ablenkung sorgen. «All dies kann zu einer positiveren Einstellung beitragen und die Compliance sowie den Heilungsprozess fördern», sagt Cathy Grohmann, Leiterin Portfolio Management im KSSG-Departement Immobilien & Betrieb.

Ausgeliefert und verloren in einer riesigen Maschinerie – dieses Gefühl kann einen im Spital schnell beschleichen. Gerade in grossen Klinikkomplexen ist es daher wichtig, für Überschaubarkeit und Orientierung zu sorgen. Fawad Kazi plante nach einem einfachen Prinzip. «Die zentrale Eingangshalle liegt im Zentrum des gesamten Areals. Die meisten Wege führen somit dorthin.» Zum Wohlbefinden soll im KSSG auch eine optimierte Raumqualität beitragen. So gibt es im Neubau ausschliesslich Zweibettzimmer, die auch als Einbettzimmer genutzt werden können. Die Raumaufteilung lasse auch bei einer Zweierbelegung Diskretion und Privatheit zu.

 

 

Selbstbestimmt und selbstständig

Wie Zimmer gestaltet sein sollten, damit Patientinnen und Patienten besser genesen, wollte Monika Kritzmöller wissen. Sie konnte für ihr Forschungsprojekt die Verantwortlichen der Hirslanden Klinik Stephanshorn in St.Gallen gewinnen. «Die Planung setzte bei Faktoren wie Autonomie und Territorialität an, welche im üblichen Klinikbetrieb stark beeinträchtigt werden», sagt die Wissenschaftlerin. Zum Beispiel kamen dimmbare Leuchten zum Einsatz, mit denen sich jeder auch im Zweibettzimmer die Atmosphäre schaffen kann, die ihm gerade guttut – vom warmen Kerzenschein bis zum belebenden Aufwachlicht. Aber auch Natur und Natürlichkeit wurden in Design übersetzt, etwa mit Materialien wie Echtholz und Linoleum.

«Die Forschungsergebnisse belegen, dass wir mit einer konzeptionell durchdachten Architektur messbare Vorteile für die Genesung erzielen».

Urs Cadruvi, Direktor Hirslanden Klinik Stephanshorn

Die Resultate überzeugten die Klinikleitung und dienen nun als Grundlage für die Gesamterneuerung des Patientenbereichs. «Die Forschungsergebnisse belegen, dass wir uns nicht in einem dekorativen Rahmen bewegen, sondern mit einer konzeptionell durchdachten Architektur messbare Vorteile für die Genesung erzielen», sagt Urs Cadruvi, Direktor der Hirslanden Klinik Stephanshorn. Dies trage sowohl zur Qualität der medizinischen Versorgung als auch zur Wirtschaftlichkeit bei. Zudem verschaffe man sich so einen Wettbewerbsvorteil. Denn kaum eine Werbung sei glaubwürdiger als positive Patientenerlebnisse.

 

 

«Es geht nicht um die Kirsche auf der Torte»

Eine auf Patienten zugeschnittene Architektur ist für die medizinische Behandlung ebenso wichtig wie leistungsfähige Geräte. Davon ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Monika Kritzmöller überzeugt.
 

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Monika Kritzmöller führt das Forschungs- und Beratungsinstitut «Trends + Positionen». Sie untersucht Alltagskultur, Lebensstile und Trends aus einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel und wendet ihre Ergebnisse in der Unternehmenspraxis an. Parallel dazu unterrichtet sie als Privatdozentin Soziologie an der Universität St.Gallen. 2022 publizierte sie das Buch «Healing Architecture – Eine patientenzentrierte Diagnose».

 

Sollte ein modernes Spital ähnliche Annehmlichkeiten bieten wie ein Hotel?

Wichtig ist, die grundlegend unterschiedlichen Aufgaben von Hotels und Spitälern zu erkennen. Ein Hotel wird aufgesucht, wenn in den Ferien Erlebnis und Erholung auf dem Plan stehen, während Geschäftsreisende eine komfortable Unterbringung schätzen, um ihre Leistung optimal entfalten zu können. Anders im Spital: Personen sind handicapiert, die Raumwahrnehmung verändert sich unter Schmerzen oder Medikamenteneinfluss. Man findet sich in einer Situation wieder, die im Alltag undenkbar wäre, was bedeutet: mit fremden Menschen in demselben Schlafzimmer, einem externen Tagesablauf unterworfen und mit marginaler Privatsphäre. Diese Personen machen nicht fröhlich Ferien, sie haben andere Bedürfnisse. Diesen gilt es, mit einer konzeptionell entwickelten Raumgestaltung Rechnung zu tragen.

Inwieweit trägt Healing Architecture zum besseren Wohlbefinden und zur rascheren Genesung bei?

Mein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Hirslanden Klinik Stephanshorn ging genau dieser Frage nach. Dazu haben wir zwei Zweibett-Testzimmer eingerichtet. Diese wurden im fünfmonatigen Betrieb mit konventionellen Zimmern verglichen. Patientinnen und Patienten aus den Testzimmern hatten bessere Vitalwerte, waren selbstständiger, klingelten weniger oft nach der Pflege und waren in besserer psychischer Verfassung.

Wie hat sich die neue räumliche Gestaltung auf die Interaktion zwischen Patienten und Personal ausgewirkt?

Ein Patient sagte in einem meiner Interviews, er habe gleich beim Betreten des Zimmers zur Pflegefachfrau gesagt, hier sei eine viel bessere Atmosphäre. Er fühle sich wohler und geborgener als in einem typischen Spitalzimmer. Damit zeigt er, dass er sich auf die Situation einlässt, anstatt sich vernünftig bis demütig seinem Schicksal zu fügen. In diesem Moment entsteht eine soziale Beziehung zwischen Patienten und Personal.


Eine entspanntere Beziehung?

Ja. Angenommen, die Pflegerin käme später, um dem Mann Blut abzunehmen. Er wäre vertrauensvoller und weniger gestresst. Stress trägt nachweislich zu entzündlichen Prozessen bei und beeinträchtigt Sozialbeziehungen. Auf der Frauenstation gab eine Pflegerin an, sowohl Mütter als auch Kinder seien entspannter.

Welche Vorteile ergeben sich für Besucherinnen und Besucher?

Sie verspüren oftmals Unbehagen, jemanden im Spital aufzusuchen, wogegen eine konstruktive Umgebung das Zusammensein mit den Erkrankten «zivilisiert». Man verbringt normale Zeit miteinander, anstatt sich möglichst rasch der unbehaglichen Umgebung wieder zu entziehen.

Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie für Spitäler bei der Kombination von gesundheitsfördernder Architektur und medizinischem Fortschritt?

Beides kann und soll sich synergetisch unterstützen. Ziel ist nicht, diese Bereiche gegeneinander auszuspielen. Während aber insbesondere unter steigendem Kostendruck die neueste OP-Technik im Zweifelsfall noch budgetiert wird, ist der Nutzen von gezielt gestalteter Architektur weniger plakativ und linear ersichtlich. Sie wird oftmals als «nice to have» marginalisiert.

Welchen Stellenwert haben die Erkenntnisse der Healing Architecture bei aktuellen Um- und Neubauten von Schweizer Spitälern?

Unter dem inflationär verwendeten Begriff Healing Architecture wird seit einiger Zeit alles eingeordnet, was Spitäler im Zuge von Neubauten oder Renovierungen «hübscher» machen soll. Mit Parkettböden für gestiegene Patientenansprüche ist es aber nicht getan, denn so wird Architektur auf ihren dekorativen Aspekt verniedlicht. Es geht aber nicht um die Kirsche auf der Torte, sondern um eine grundlegende Haltung, welche Bestandteil der gesamten Planung und Gestaltung sein muss. Entscheidend ist, welches Patientenbild vorherrscht und welchen Anspruch ein Haus an sich selbst hat. Ein ganzheitliches Verständnis ist erforderlich, um Healing Architecture als Alleinstellungsmerkmal zu nutzen.