Die Zeit drängt: Bereits heute zählen in der Schweiz die Über-100-Jährigen zu jener Bevölkerungsgruppe, die am stärksten wächst. Gemäss nationalem Versorgungsbericht 2019 wird der Bedarf an Pflege- und Betreuungspersonal in den Alters- und Pflegeheimen im Zuge der demografischen und epidemiologischen Entwicklung bis 2029 von
«Bereits mit 50 beginnt die Phase der Vorbereitung aufs Alter.»
16 auf 36 Prozent und bis 2035 von 31 auf 69 Prozent steigen. Unterstützende Technologien wie Warnmelder, automatische Lichtanlagen oder Roboter könnten die Lösung sein. Prof. Dr. Sabina Misoch ist Leiterin des Instituts für Altersforschung (IAF) der Ostschweizer Fachhochschule (OST). Sie untersucht mit ihrem Forschungsteam, welche Technologien das Leben von Älteren und Hochaltrigen erleichtern und wie diese von Nutzerinnen und Nutzern akzeptiert werden.
Frau Misoch, ab wann ist man alt? Es gibt über 200 Theorien, die versuchen, das Alter und Altern zu erklären. Und keine davon ist wirklich belegt. Daher haben wir zu Beginn unserer Forschungsprojekte beschlossen, uns an einer sozialpolitischen Definition auszurichten und die Lebensphase Alter mit dem Eintritt in das offizielle Verrentungsalter zu definieren. Bereits mit 50 beginnt die Phase der Vorbereitung aufs Alter. Nach dem Eintritt in die Pensionierung mit 64 bzw. 65 mit sehr aktiven und gesunden Jahren folgt später die Phase, in der man fragiler wird und sein Leben an die neuen
«Wir brauchen die Lösungen jetzt. Es macht keinen Sinn, länger zuzuwarten.»
Umstände anpasst. Zuletzt steht die Phase der Hochaltrigkeit, in der man sich mit dem Lebensende auseinandersetzen muss. In der Theorie beginnt das fragile Alter mit circa 85 Jahren. Aber einige sind mit 60 schon fragil, andere fühlen sich mit 90 noch topfit. Wie wir altern, ist zu circa 20 Prozent durch biologisch-genetische Komponenten festgelegt. Die anderen 80 Prozent sind sehr spannend. Hier kommen dann Elemente wie Lifestyle, aber auch Krankheiten zum Tragen. Es sind letztendlich viele Prozente, die ich selbst beeinflussen und steuern kann. Denn die Frage ist nicht nur, wie alt ich werde, sondern eben auch auf welche Art und Weise. Welche Qualität hat meine Lebensphase Alter?
Diese Qualität möchten Sie und Ihr Team unter anderem mit dem Forschungsprojekt AGE-INT verbessern?
Richtig, AGE-INT steht für Internationale Expertise der Schweiz für innovative Lösungen für eine alternde Gesellschaft. Es ist das grösste nationale Projekt, das sich mit dem Themenfeld Alter und Altern auseinandersetzt. Bei allen Themenclustern (siehe Box auf Seite 52) orientieren wir uns an internationalen Innovationen. Was machen Forschungskolleginnen und -kollegen, Entwicklerinnen und Entwickler im Ausland und was können wir davon auch sinnvoll für die Schweiz implementieren? Denn wir brauchen die Lösungen jetzt. Es macht keinen Sinn, länger zuzuwarten und zu schauen, wie sich die Demografie entwickelt. Die Erkenntnisse müssen von der Theorie in die Praxis gelangen. Im Cluster «Technologie» machen wir dazu ab 2022 jährlich eine Roadshow. Dabei fahren wir mit einem barrierefreien Anhänger durch die Schweiz und zeigen, was für Technologien es bereits gibt, die das Leben von Älteren und Hochaltrigen erleichtern. Die Leute können neugierig sein, ausprobieren und mit uns ins Gespräch kommen.
Wie arbeiten Sie mit Heimen und Spitälern zusammen? Wir verfügen über ein grosses Netzwerk und eine für die Schweiz einzigartige Living-Lab-Struktur. Diese besteht aus Stakeholdern in den Bereichen Heime und Spitäler, Privathaushalte, Servicewohnungen sowie aus Alters- und Pflegeheimen. Man kann sich ein Living Lab wie ein Gegenmodell zur klassischen Labortestung vorstellen. Technologie wird üblicherweise in einem künstlichen Labor vorgetestet. Damit lässt sich jedoch nur die allgemeine Funktionalität überprüfen. Ob die Technologie auch von den Nutzern akzeptiert wird, das ist eine viel komplexere Frage, die sich aus unserer Sicht nur mit einem Langzeittest in einem Living Lab beantworten lässt. Daher arbeiten wir mit
«Man merkt, dass der Roboter gar nicht so kompliziert ist wie gedacht.»
einem künstlichen Labor für Funktionstests und untersuchen danach in unseren Living Labs, welche Technologien von den Testerinnen und Testern akzeptiert werden, ob die Funktionalität einem Bedürfnis entspricht oder was sich die Personen sonst noch vom Gerät wünschen würden. Die Methode hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, da wir durch die Langzeitanwendung genauere Ergebnisse erzielen und damit valide Aussagen zu Usability und Akzeptanz möglich sind. Ein gutes Beispiel dafür sind Roboter. Hier ist die Akzeptanz anfangs oft noch klein, die Menschen sind skeptisch und zurückhaltend. Mit der Zeit wird die Akzeptanz immer grösser, da man merkt, dass der Roboter gar nicht so kompliziert ist wie gedacht. Bei manchen Technologien zeigt sich genau der umgekehrte Effekt: Am Anfang wirkt das neue Gerät spannend und ist viel im Einsatz, doch nach ein paar Wochen wird es gar nicht mehr benutzt. Das sagt uns, dass es diese Technologie wohl nicht braucht.
Können Roboter in der Pflege helfen?
Noch haben viele Menschen extreme Angst davor, dass Roboter sie ersetzen könnten. Die beruhigende Nachricht: Einerseits ist das technologisch noch lange nicht möglich, andererseits können wir die Entwicklung mitgestalten. In unserem Institut sind wir uns einig, nur jene Projekte voranzutreiben, bei denen Roboter unterstützend wirken. Hierbei geht es vor allem Tätigkeiten, die nicht im engeren Sinne pfl egerisch sind. Über den Tag verteilt läppern sich solche kleineren Aufgaben zusammen und kosten Zeit. Hier kann ein Roboter gut unterstützen und entlasten. Ein Beispiel dafür ist ein Roboter, der Bewohnende daran erinnert, regelmässig zu trinken. Zudem misst er, wieviel bereits getrunken wurde, und kann so eine Statistik erstellen, die den Pfl egerinnen und Pfl egern wichtige Daten liefert. Dies wird derzeit in der Ostschweiz getestet.
Nicht immer ist auf den ersten Blick klar, welche Aufgaben ein Roboter übernehmen soll. Wir haben zum Beispiel eine Studie zur Robotikakzeptanz mit 142 Personen durchgeführt. Hier untersuchten wir unter anderem, ob eher Servicetätigkeiten wie zum Beispiel das Getränkeholen oder Pfl egesituationen wie Waschen von einem Roboter erwünscht sind. Die meisten Teilnehmenden empfanden den Roboter als unheimlich und sagten, dass sie sich nicht von einem Gerät waschen lassen würden. Es gab aber auch einzelne, für die der Roboter die angenehmere Variante wäre. Hier könnte man ein Angebot schaffen, bei dem Bewohnerinnen und Bewohner selbst entscheiden, ob sie es nutzen wollen oder nicht.
Laut einer Studie von CURAVIVA werden Akti vierungsroboter in der Schweiz noch sehr selten eingesetzt. 2019 waren es nur 24 Institutionen, die einen Paro, Nao oder Pepper im Einsatz hatten. Warum ist das so?
Wir haben schon mehrere Technologien getestet, die in der Aktivierungstherapie eingesetzt werden. In der Regel waren Bewohnende und Heimleitende sehr begeistert, Pflegerinnen und Pfleger aber häufig eher skeptisch. Ich vermute, das hat auch mit der Pflegeausbildung zu tun. Diese war bislang sehr
«Sind Personen nicht informiert, entscheiden sie aufgrund von persönlichen Präferenzen.»
technikavers. Das ändert sich jetzt allerdings. In die Lehrpläne der Pflegeausbildung werden immer öfters Technologien integriert. Wenn ich eine Pflegefachleitung innehabe, dann muss ich in Zukunft auch alle Vor- und Nachteile kennen, um die passenden Technologien für meine Institution anschaffen zu können. Aufklärung ist daher sehr wichtig. Sind Personen nicht informiert, entscheiden sie aufgrund von persönlichen Präferenzen und haben schnell Vorurteile gegenüber neuen Technologien.
Wie begegnen Sie dieser Herausforderung?
Sich breit zu informieren, ist noch sehr aufwendig und schwer. Institutionen müssten grosse Recherchen betreiben und Datenbanken durchforsten. Wir möchten ihnen diesen Aufwand abnehmen und die Ergebnisse auf einer Robotikplattform für alle zur Verfügung stellen. Ab Ende 2022 soll diese Website alle verfügbaren Robotersysteme für ältere Menschen mit Kurzvideos und Erfahrungsberichten vorstellen.
Ist die Digitalisierung von Spitälern und Heimen ebenfalls Thema?
Natürlich, denn letztendlich sind die Technologien, die wir untersuchen, alle digital und miteinander vernetzt. Institutionen haben oft noch Nachholbedarf. Manche Heime sind auf andere Gegebenheiten vorbereitet. Neue Bewohnerinnen und Bewohner wundern sich zum Teil, warum noch kein WLAN zur Verfügung steht. Das Aufrüsten ist eine Herausfor derung, aber die Heime und Institutionen werden diese Hürde sicherlich gut überwinden. Auch der umgekehrte Fall
«Heimleiterinnen und Heimleiter sollten das Gespräch mit der nächsten Generation suchen.»
kann herausfordernd sein, wenn ein Heim oder eine Institution bereits mit einem eigenen System arbeitet, das nicht mit den anderen Technologien kompatibel ist. Daher ist es auch gerade für die Hersteller der Geräte wichtig, auf die Kompati bilität zu achten, damit diese in der Praxis leichter integriert werden können.
Wie wird ein Alters- und Pflegeheim 2030 aussehen?
Ich denke, das Heim der Zukunft wird individualisierter sein. Einige Gestaltungsoptionen sind zwar heute schon möglich, aber kommende Generationen möchten noch mehr Handlungsspielraum wie zum Bespiel die Wahl zwischen Appartement oder Wohngemeinschaft. Vor allem möchten Menschen länger zuhause leben. Das funktioniert aber selbst mit umfassender technischer Unterstützung und menschlicher Begleitung nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Um ein Altersheim weiterhin attraktiv zu gestalten, braucht es einen stärkeren Fokus auf die Bedürfnisse von Bewohnerinnen und Bewohnern. Was das konkret bedeuten wird, kann ich auch nicht vorher sagen. Ich kann nur betonen, dass Heimleiterinnen und Heimleiter unbedingt das Gespräch mit der nächsten Generation – den jetzigen Angehörigen – suchen und deren Bedürfnisse ernst nehmen sollten.
STECKBRIEF
Sabina Misoch
Prof. Dr., Institutsleiterin
Die Leiterin des Instituts für Altersforschung (IAF) der Ostschweizer Fachhochschule (OST) koordiniert die Gesamtleitung des aktuell grössten nationalen Altersfoschungsprojekts «AGE-INT – Alter(n) in der Gesellschaft».
AGE-INT
Am nationalen Forschungsprojekt AGE-INT sind die Ostschweizer Fachhochschule (OST), die Fachhochschule Bern (BFH), die Scuola Universitaria Professionale della Svizzera Italiana (SUPSI), die Universität Genf sowie das Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich beteiligt. Dabei werden die vier Themencluster «Demenz: Prävention und Pfl ege», «Technologien für Menschen im Alter», «Soziale Inklusion und Einsamkeit» und «Erwerbsarbeit 65plus» sowie das übergeordnete Thema «Hochaltrigkeit» untersucht.