Notausgang
Business-Praxis Stefan Kühnis und Roman Müller 20.08.2018

Zielkonflikte in der Sicherheit

Vorkehrungen in den Bereichen Arbeitssicherheit, Brandschutz,
Evakuierung oder Zutrittskontrolle kommen sich manchmal gegenseitig in die Quere. Kompromisse scheinen unausweichlich, sind aber riskant.

Es brennt. Alle müssen raus, aber keiner darf rein. Bloss die Feuerwehr, die muss rein. Wer raus geht, soll keine Daten und Waren entwenden können. Und sogar beim Löschen ist Vorsicht geboten – was, wenn man dadurch einen Jahrhunderte alten Schatz zerstört? Es gibt in der Sicherheit einige solcher Zielkonflikte. Deshalb müssen Sicherheitsbeauftragte auch immer pragmatisch denken und vorgehen.

Einbruchschutz vs. Fluchtwege und Notausgänge

Ein klassisches Beispiel für Zielkonflikte sind die Bereiche Einbruchschutz und Fluchtwege. Ein Fluchtweg soll stets ungehindert in einen sicheren Bereich führen und den Menschen im Notfall das Leben retten. Solche Notfälle gibt es glücklicherweise eher selten. In sehr vielen Betrieben werden Fluchtwege deshalb als Zwischenlager missbraucht und sind versperrt, wenn sie gebraucht würden. Die Notausgänge, die von innen nach aussen und für die Feuerwehr als Rettungsweg auch umgekehrt frei begehbar sein müssen, sind durch geparkte Fahrzeuge blockiert oder werden häufig sogar

«In sehr vielen Betrieben werden Fluchtwege als Zwischenlager missbraucht und sind versperrt, wenn sie gebraucht würden. »


verschlossen. Denn die Gefahr eines Einbruchs und die Angst davor sind allgegenwärtig. Wer bereits einmal von einem Einbruch betroffen war, nimmt es noch genauer. In detaillierter Aufarbeitung des Ereignisses werden zum Beispiel die Fenster mit massiven Eisengittern versehen. Dadurch ändert sich jedoch das Gesamtkonzept. Denn wenn flüchtende Menschen versperrte oder durch starke Rauchentwicklung abgeschnittene Fluchtwege finden, versuchen sie über die Fenster aus dem Gebäude zu gelangen – in diesen Fällen dann leider erfolglos.

Besonders in der Gastronomie geschehen rund um diese Zielkonflikte sehr viele Fehler und Sicherheitsfachleute haben hier häufig etwas zu beanstanden. Das gilt übrigens nicht nur für kleine Gasthäuser, sondern genauso für grosse Betriebe.

Zutrittskontrolle vs. Intervention

Selbstverständlich braucht es fÜr sensible Firmenbereiche eine Zutrittskontrolle. Ungebetene Besucher haben hier keinen Zutritt. Die Feuerwehr oder der Rettungsdienst sind in einem Notfall jedoch sehr willkommen. Also müssen auch diese Firmenbereiche für eine Intervention zugänglich sein. Doch ist die Sicherheit dann noch immer gegeben? Gut gesicherte Haustüren, Fenstergitter oder Sicherheitsglas können gefährlich sein, vor allem in Kombination mit einem Konzept, das nicht mit Fachleuten abgesprochen wurde. Ein schneller Zutritt ohne Schlüssel wird erheblich erschwert. Deshalb sollten auch Schlüsselrohre für die Interventionskräfte installiert werden, damit der Zugang gewährleistet werden kann. Und natürlich müssen die Interventionskräfte diese Schlüsselrohre kennen, sie müssen also instruiert werden.

«Gut gesicherte Haustüren, Fenstergitter oder Sicherheitsglas können gefährlich sein. »

 

Evakuation vs. Diebstahlschutz

Fragen stellen sich auch zu einer Evakuierung des Gebäudes: Wer darf und soll diese auslösen? Die betroffenen Menschen in Sicherheit zu bringen, hat natürlich absolute Priorität. Also wäre es sinnvoll, wenn jeder, der einen Vorfall erkennt, den Evakuationsalarm auslösen könnte. Ist es aber immer zwingend, das Gebäude zu evakuieren, oder könnte dies gar missbräuchlich geschehen, damit jemand mit gestohlenen Daten oder Waren ungehindert und unerkannt aus dem Gebäude gelangen kann? Was hat nun also mehr Gewicht, die Sicherheit der Mitarbeitenden und der Gäste oder der Diebstahlschutz?

Arbeitssicherheit vs. Investitionen

Besonders in der Arbeitssicherheit sind die Kosten häufig ein Thema. Knappe Budgets oder ganz einfach die Unverhältnismässigkeit, die sich unweigerlich hie und da ergibt, dürfen dennoch nicht umgangen werden. Selbstverständlich ist es unverhältnismässig, eine Hubarbeitsbühne anzuschaffen, um zwei Mal im Jahr Leuchtmittel auszuwechseln. Natürlich ist es nicht verhältnismässig, einen Stapler zu kaufen, um jedes zweite Jahr eine Prospektlieferung annehmen zu können. In vielen Fällen bietet sich aber nach einer genauen Betrachtung der Prozesse und einer konkreten Planung sogar die Möglichkeit, Geld einzusparen und damit für andere Dinge bereitzustellen. Oft kann eine höhere Effizienz erreicht werden. Auch mit konkreter Kommunikation. Der Lieferant der Prospekte kann nämlich darüber informiert werden, welche Ausrüstung vorhanden ist oder wie die Prospekte anzuliefern sind, damit ihr Entladen keine Gefahr darstellt. Und es gibt Arbeitsbühnen übrigens auch zur Miete. Selbst wenn die Organisation solcher Dinge unter Zeitdruck oft untergeht, macht sie sehr viel Sinn. Natürlich braucht es zum Umgang mit Arbeitsbühnen auch eine explizite Schulung und Einweisung, was die Problemlösung weiter in die Länge ziehen kann.

Ergonomie vs. Brandschutz

Übernimmt eine neue Führung ein Hotel oder Restaurant, verändern sich manchmal die Konzepte und damit auch die Personenflüsse und die Arbeitsorganisation. Häufig ergeben sich sogar schon beim Einzug des ersten Nutzers in einen Neubau Herausforderungen: Das Gebäude ist schlicht nicht für die Nutzung gebaut, für die es dann gebraucht wird. Notausgänge und Fluchtwege entsprechen nicht mehr dem ursprünglichen Gedanken, Brandschutztüren werden mit Holzkeilen offengehalten, damit das Servicepersonal oder die Köche ungehindert passieren

«Im Brandfall muss eine Brandschutztüre geschlossen sein.»


können. Doch im Brandfall muss eine Brandschutztüre geschlossen sein. Es gibt Rückhaltemagnete für Brandschutztüren, die das ermöglichen und die Tür tagsüber offenhalten, bei einem Feuer aber automatisch schliessen. Diese Rückhaltemagnete müssen jedoch an die Brandmeldeanlage angeschlossen werden, damit das klappt, und diese Brandmeldeanlage muss wiederum gemäss Herstellerangaben regelmässig kontrolliert werden, meistens jährlich.

Brandschutz vs. Denkmalschutz

Bricht beispielsweise in einem Museum ein Feuer aus, kann man nicht ohne Weiteres mit Löschflüssigkeiten hantieren. Nehmen wir die Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen: In einem Brandfall ist es dort enorm wichtig, die gelagerten Kostbarkeiten zu schützen. Mit einer Sprinkleranlage kann man Feuer erfolgreich löschen, doch sind die Bücher am Ende vielleicht genauso zerstört, wie wenn sie verbrannt wären. Was ist nun zu priorisieren?

Innovation vs. Sicherheits- und Rettungskonzept

Immer häufiger müssen sich Gastbetriebe ganz besondere Angebote ausdenken, um Gäste anzulocken. Gastbetriebe mit einer Klientel aus bestimmten Regionen der Welt setzen oft auch auf Köche, Hilfskräfte und Menüs aus diesen Regionen. Doch in anderen Kulturen herrscht auch ein völlig anderes Sicherheitsdenken. Eine einfache Schulung bringt dann noch längst nicht den gewünschten Effekt. Man muss also noch mehr kontrollieren und nachbessern, was viel Zeit und auch Geld kostet.

Eine andere innovative Idee ist die Erlebnisgastronomie. Es gibt heute Übernachtungsmöglichkeiten in Iglus, im Stroh oder auf dem Berg, häufig weit weg von Infrastrukturen, nur zu Fuss oder per Seilbahn erreichbar. Das macht ein Rettungskonzept ziemlich schwierig. Erleidet dort jemand einen Herzinfarkt und läuft die Seilbahn nicht, dauert es sehr lange, bis der Rettungsdienst vor Ort ist – viel zu lange. Es bräuchte also Rettungssanitäter oder zumindest ausgebildete Ersthelfer vor Ort.

Fazit

Sicherheit kennt eigentlich keine Kompromisse. Vernachlässigt man die Sicherheit an einer Stelle, um Kompromisse einzugehen, ist man grundsätzlich bereit, Menschenleben oder einen monetären Schaden für das Unternehmen zu riskieren. Dennoch sind aufgrund der erwähnten Zielkonflikte nur pragmatische Lösungen richtig erfolgreich. An erster Stelle muss immer die Unversehrtheit des Menschen stehen. Einrichtungen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern, dürfen nicht allein von einem Fachmann aus einem Gebiet beurteilt werden. Sie erfordern Gesamtkonzepte, die von Fachleuten aus den Bereichen Arbeitssicherheit, Brandschutz, Notfallmanagement, Einbruchschutz, Zutrittskontrolle und Intervention erarbeitet werden. Die Gefährdungen müssen erkannt und analysiert und zielführende Massnahmen, zum Beispiel nach dem Prinzip STOP (Substitution, technische, organisatorische und persönliche Massnahmen), umgesetzt werden. Aber wie? Der Schulterschluss mit den Behörden ist oft und ganz besonders bei grösseren Infrastrukturen unerlässlich. Und es gilt die Erkenntnis: Mit einer professionellen Planung lassen sich (Folge-) Kosten von Ereignissen, Unfällen oder gar Todesfällen verhindern. Sicherheit heisst Leben retten, Tragödien verhindern und den wirtschaftlichen Erfolg sichern.

*Roman Müller ist Brandschutz- und Sicherheitsfachmann und Geschäftsführer MPS Müller Projects & Services AG.

VON:
Stefan Kühnis und Roman Müller