Gastronomie Janine Keller 25.10.2021

Serie «Tea Time» (Teil 2): Tee zelebrieren

Tee trinken ist mehr als Kräuter mit heissem Wasser zu übergiessen. Dies zeigt Teemeisterin Ivy Fang im Rahmen einer traditionellen chinesischen Teezeremonie.

Tee ist wie das Leben: Manchmal schmeckt er zuerst bitter, bevor er süss wird. Das sind die Worte von Teemeisterin Ivy Fang. Die gebürtige Chinesin lebt seit 2005 in der Schweiz und führt hier regelmässig Teezeremonien durch. So auch heute in Henau (SG). Zehn chinesische Frauen und ich stehen versammelt um einen in Grün- und Brauntönen dekorierten Tisch, auf dem feinstes chinesisches Geschirr und filigrane Figürchen sorgfältig drapiert sind. Die Dekoration ist nicht zufällig. Jede Zeremonie wird einem bestimmten Thema gewidmet, passend zu Ort und Zeitpunkt. Auf dem Tisch stehen unter anderem eine kleine Schneckenfigur und Blumen – Ivy Fang hat das Thema Garten für den heutigen Anlass gewählt. «Der Garten steht für mich für die Zeit zwischen Frühling und Sommer.» Alles scheint sorgfältig geplant. Ich stelle mich auf ein bedächtiges, strukturiertes Ritual ein und werde eines Besseren belehrt. Denn am heutigen Anlass wird laut gelacht und diskutiert. Die Kombination aus Struktur und Zwanglosigkeit wird mich heute noch einige Male überraschen.

Eine Zeremonie in fünf Schritten

Theoretisch läuft eine chinesische Teezeremonie immer in denselben fünf Schritten ab, beginnend mit der Positionierung der Tischgarnitur. Sind alle Teilnehmenden versammelt, werden die verschiedenen Teeblätter präsentiert, alle Anwesenden dürfen daran riechen. Anschliessend werden die Teeblätter in die sogenannte Zi-Sha-Teekanne gegeben, ein traditionelles chinesisches Aufbrühgefäss aus Töpferton. Nun wird das richtig temperierte, kochende Wasser dazugegeben. Hat der Tee seine Ziehzeit erreicht, wird er gleichmässig im Uhrzeigersinn in die bereitstehenden Teeschalen gegossen. Bevor die Gäste den Tee geniessen können, wollen Farbe und Aroma bewundert werden. Nicht selten kommen dabei spezielle doppelte Tassen zum Einsatz: Der obere Teil dient dem Riechen, aus dem unteren Teil wird getrunken. Je nach Teesorte folgen bis zu zehn weitere Aufgüsse, wobei sich der Geschmack und die Stärke des Tees bei jeder Runde verändern.

Pflicht und Kür

Die Theorie klingt nach einem geordneten Ablauf, in der Umsetzung jedoch nimmt man es nicht ganz so streng. Das sei der Unterschied zwischen japanischen und chinesischen Teezeremonien, sagt Ivy Fang. «Während bei japanischen Teeritualen nicht geredet werden darf, lebt das chinesische Pendant von Diskussionen und Austausch.» Die Zeremonie in Henau ist das beste Beispiel dafür. Alle Teilnehmerinnen reden ausgelassen miteinander, lachen, verlassen den Tisch des Geschehens und kommen zurück, wenn sie ihre Tassen gerne nochmals gefüllt haben möchten. Genau so soll es sein, findet Ivy Fang. «In einer chinesischen Teefeierlichkeit geht es um das Zusammensein und um die Gemeinschaft. Es soll entspannte

«Chinesische Teerzeremonien leben von Diskussionen und Austausch.»

Ivy Fang Teemeisterin

und ausgelassene Stimmung herrschen.» Respekt und Anstand sind trotzdem an der Tagesordnung und haben bei einem Teeritual ihren festen Platz. «Ich zeige meinen Respekt beispielsweise, indem ich die Tassen nicht überfülle und die Teilnehmenden so nicht in eine unangenehme Lage bringe. Die Teilnehmenden wiederum sollten darauf achten, nicht zu schlürfen», präzisiert die Teemeisterin.

 

Kultur-Crashkurs

Eine junge Teilnehmerin erklärt mir zudem höflich, dass es in China als anständig gelte, Gegenstände wie Tassen mit beiden Händen statt nur mit einer anzunehmen, nachdem ich gerade das Gegenteil tat. Sie trägt einen traditionellen Qipao, ein seidenes, bis zum Kragen hochgeschlossenes Kleid mit Floralmuster. Am heutigen Tag erfahre ich viel über chinesische Sitten und Bräuche, denn ich befinde mich in einer Runde von Chinaexpertinnen. Die Teezeremonie wurde von der Swiss Guqin Association organisiert, der auch Ivy Fang angehört. Der Verein setzt sich für die Verbreitung der traditionellen chinesischen Kunst und Philosophie in der Schweiz und den umliegenden Ländern ein. Die heutige Veranstaltung findet im Wohnzimmer von Vereinsgründerin und -leiterin Qin Streller-Shen statt. «Bei unseren regelmässigen Treffen spielen wir jeweils gemeinsam das chinesische Zupfinstrument Guqin, lesen Gedichte, kochen und philosophieren.» Als Ivy Fang vor acht Jahren dazustiess, bereicherte sie den Verein mit ihrem Teewissen, das Qin Streller-Shen sehr schätzt. «Tee ist ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Kultur. Es ist nicht nur ein Lebensmittel, sondern steht für ein Lebensgefühl», so die Vereinsleiterin. Seither buchten bereits Institutionen wie die Bibliothek St.Gallen oder das Konfuzius-Institut in Basel Teezeremonien über den Verein.

 

Aussergewöhnliche Teekarte

Heute serviert Ivy Fang unter anderem einen grünen Fuji-Tee, einen 26 Jahre alten Pu-Erh-Tee, der mit einem Kilopreis von über 4’000 Franken als teuerster Tee der Welt gilt, sowie eine sogenannte Oriental Beauty. Der exotische Name passt zum ungewöhnlichen Herstellungsverfahren dieses besonderen Oolong-Tees. Die Oriental Beauty stammt ursprünglich aus Taiwan und gilt als sehr rare Spezialität. Die Teeblätter werden durch winzige Zikaden und Raupen angefressen, die ihren Speichel auf den Blättern hinterlassen. Nur so können die Blätter ihr volles Aroma entfalten. Einer Legende zufolge gab Königin Elizabeth II diesem Tee seinen Namen – durch Zufall. Ein taiwanesischer Teebauer verkaufte anfangs des 20. Jahrhunderts seine Tee-Ernte trotz vorherigem Zikadenbefall an einen bekannten britischen Händler. Dieser war entzückt von dem fehlerhaften Tee und brachte ihn zur Königin. Elizabeth II war ebenfalls begeistert vom Geschmack und den schönen kastanienfarbenen Blättern und nannte den Tee eben «Oriental Beauty». Und schmeckt die Teesorte so lecker wie sie klingt? Die Zeremonienteilnehmerinnen in Henau sind geteilter Meinung. Während einige dem Tee einen Heugeschmack zuschreiben, vergleichen andere den Duft mit einem schimmligen Kellerabteil. Was meint die Expertin? «Der Geschmack des Pu-ErhTees verändert sich mit jedem Schluck. Er schmeckt kräftig, stimuliert die Speichelproduktion und hat eine beruhigende Wirkung», sagt Ivy Fang.

 

«Man trinkt Tee, damit man den Lärm der Welt vergisst.»

Chinesisches Sprichwort

Smells like Tea Spirit

Jeder Tee zeichnet sich nicht nur durch seinen eigenen Geschmack, sondern auch durch sein «Chi» aus, was sich aus dem Chinesischen mit Geist oder Energie übersetzen lässt. Nach dem Trinken von heissem Tee fliesse das Tee-Chi durch die Meridiane und den Körper und veranlasse die Poren, sich zu öffnen und

«Die Energie des Tees fühlt man nur, wenn man ihn achtsam trinkt.»

Ivy Fang

leicht zu schwitzen, wie ein klarer Strom, der den ganzen Körper durchdringt. «Die Energie des Tees fühlt man nur, wenn man ihn achtsam trinkt. Deshalb geht Tee für mich über die Ebene des Essens und Trinkens hinaus. Es bedeutet für mich Achtsamkeit», sagt Ivy. Die Leidenschaft für Tee entwickelte sich bereits in Ivys Kindheit. Aufgewachsen ist die gelernte 37 Finanzkauffrau in einer Küstenstadt in Südostchina. Diese Region ist bekannt für die vielen saftig grünen Oolong-Plantagen und ihre prägende Teegeschichte. «An der Küste Südostchinas gibt es viele sogenannte Teebars, die mit europäischen Espressobars vergleichbar sind. Jeder Gast kriegt eine kleine, aber sehr starke Tasse Tee», erzählt Ivy Fang. Die Teekultur ist fest in ihr verankert. Bereits als Dreijährige gehörte der tägliche Tee mit ihrem Vater zum festen Tagesritual. Über die Jahre wurde Tee ein Teil von Ivys Lebensphilosophie. «Seit 40 Jahren trinke ich jeden Tag mehrere Tassen Tee. Tee hilft mir, ruhig zu werden. Sobald ich eine Tasse Tee in den Händen halte, lasse ich mich von nichts anderem ablenken.»

 

Swiss Guqin Association

Die Swiss Guqin Association wurde 2020 von Qin Streller-Shen (Bild) in der Schweiz gegründet. Der Verein setzt sich für die Verbreitung der traditionellen chinesischen Kunst und Philosophie in der Schweiz und den umliegenden Ländern ein. Er konzentriert sich insbesondere auf die Kunst des Zupfinstruments Guqin, die ein zentrales Element der klassischen Kultur in China ist. Das Kollektiv organisiert regelmässig öffentliche und private Guqin-Treffen, Konzerte, Vorträge und andere kulturelle Aktivitäten wie beispielsweise Teezeremonien.

Tipps von der Teemeisterin Zurück nach Henau, wo die Teilnehmerinnen ihre Tassen gerade zur dritten Runde Pu-Erh-Tee auf den Zeremonientisch stellen. Platziert man seine Tasse auf dem Tisch, signalisiert man der Teemeistern, dass man Nachschub möchte. Ivy Fang giesst in routinierten Griffen nochmals heisses Wasser über die Teeblätter und lässt ihn ziehen, bevor sie die leeren Tassen wieder gleichmässig füllt. Die Ziehzeit ist entscheidend für einen gelungenen Tee, da sie den Geschmack

«Tee hilft mir, ruhig zu werden.»

Ivy Fang

des Tees erheblich beeinflusst. «Der Geschmack des Tees sollte stark, aber nicht stagnierend, und leicht, aber nicht dünn sein. Mit der Zeit kriegt man ein Gefühl dafür, wann der Tee gut ist», so die Teemeisterin. Gibt es auch etwas Messbares, das man bei der Zubereitung von Tee beachten sollte? «Die Wassertemperatur muss stimmen, damit die Teeblätter ihr volles Aroma entfalten können. Bei Grüntee beispielsweise sollte zwischen 80 und 90 Grad heisses Wasser verwendet werden, während man schwarzen Tee mit mindestens 90 Grad heissem Wasser zubereitet», so die Expertin. Wenn Ivy Fang über Tee spricht, ist sie kaum zu stoppen und schafft es, dass alle Zuhörenden an ihren Lippen hängen bleiben. Nach rund acht Teerunden neigt sich die Zeremonie langsam dem Ende zu und die Gruppe entfernt sich vom Tisch des Geschehens in Richtung Garten.

 

Tea Time

Die mehrteilige Gastrofacts-Serie «Tea Time» beschäftigt sich mit der Welt des Tees. Tee hat eine traditionsreiche Geschichte. Diesen Traditionen und der Entwicklung vom Zufallsprodukt zum Trendgetränk möchten wir auf den Grund gehen. Nehmen Sie Platz und schenken Sie sich eine heisse Tasse Tee(geschichte) ein.