Selbstorganisation bedeutet auch Diskussion. Klare Regeln und Rollen helfen dabei, sagt Unternehmensberater Urs Witschi.
Heime & Spitäler Tobias Fischer 18.10.2018

«So wachsen Teams über sich hinaus»

In agilen Organisationen führen sich Teams selbst.

Tschau Chef! In agilen Organisationen übernehmen Teams die Führung selbst. Das Modell eigne sich sehr gut für Gastrobetriebe, Heime und Spitäler, sagt Unternehmensberater Urs Witschi.

Urs Witschi, klären wir zuerst den Begriff: Was ist eine agile Organisation?
Kernelemente einer agilen Organisation sind Teams, die sich selbst organisieren, selbst entscheiden und sich auf diese Weise selbst führen. Die Teams, falls es mehrere sind, müssen sich miteinander koordinieren beziehungsweise vernetzen. Charakteristisch ist auch, dass es keine festen Stellenbeschriebe gibt, sondern Rollen, die flexibel gehandhabt werden. Der Inhaber einer Rolle weiss, welche übergeordneten Ziele er zu erreichen hat. Auf welchem Weg er das macht, entscheidet er selber. Daneben gibt es einen zentralen Bereich, der für Servicefunktionen wie zum Beispiel die Personaladministration oder das Rechnungswesen zuständig ist. Und ein Geschäftsleitungsteam, das sich um die strategische Ausrichtung und die Marktbeobachtung kümmert und nur bei ganz heiklen Themen eingreift, etwa bei einer kritischen Entlassung. Das sind keine Vorgesetzten, wie man sie bisher kannte. Es ist eine neue Art von Führung, die Sinn stiftet, Leitlinien setzt, unterstützt und coacht.

«Die Führung wird von operativen 
Aufgaben entlastet und kann sich auf 
die Strategie konzentrieren.»

Und was ist der Vorteil dieser Organisationsform?
Damit kann man rasch auf unvorhergesehene Situationen reagieren. Das ist wichtig in einer Umwelt, die komplexer und schnell­lebiger geworden ist. In einer agilen Organisation sind vor allem operative Entscheidungen rascher möglich als in einer Hierarchie, wo man relativ lange Wege rauf und runter hat. Man entscheidet gleich kundennah. Ein weiterer Vorteil ist zudem, dass die agile Organisation Bereichsgrenzen abbaut. Gärtchendenken gibt es hier nicht. Die Führung wird von operativen Aufgaben entlastet und kann sich auf die Strategie konzentrieren. Und: Die Mitarbeitenden sind sehr motiviert, da sie Verantwortung übernehmen und die Entwicklung des Unternehmens aktiv mitgestalten können.

Ein neuer Trend?
Es gab bereits in den 1970er-Jahren teilautonome Gruppen. Die ETH und andere Hochschulen beschäftigten sich unter dem Stichwort «Humanisierung der Arbeitswelt» damit. Ein bekanntes Beispiel waren damals die teilautonomen Gruppen beim Autohersteller Volvo: Sie konnten sich innerhalb eines bestimmten Rahmens selbst organisieren. 2001 entstand dann das «agile Manifest», das die Grundsätze der Selbstorganisation in Informatikprojekten begründete. In dieser sehr schnelllebigen Branche erkannte man, dass Lösungen schnell entstehen müssen und man sie nicht von Anfang an bis ins Detail planen kann und schrittweise vorgehen muss. Parallel dazu habe ich mit Partnern seit rund 20 Jahren Changeprojekte mit Selbstorganisation und Vernetzung durchgeführt und dabei sehr gute Erfahrungen gemacht.

Wie gut eignet sich das Modell der Selbstorganisation für Bereiche Gastronomie, Heime und Spitäler?
Ein Gastrobetrieb kann sehr gut durch selbstorganisierte Teams geführt werden, die viele operative Entscheidungen näher beim Gast fällen können. Die Geschäftsführung plant langfristig. Sie definiert die grundsätzliche Ausrichtung und beobachtet so den ganzen Betrieb von einer höheren Warte aus. In einer Gastrokette könnten sich die einzelnen Betriebe selbst steuern und sich miteinander vernetzen. Eine Zentrale würde sie unterstützen, beraten und ihnen Dienstleistungen anbieten, etwa in den Bereichen Rechnungswesen oder Informatik.

Und in einem Heim? Gäbe es da ein Team Gastro­nomie, ein Team Pflege, ein Team Infrastruktur ...?
Genau, das wäre sehr gut denkbar, dass einzelne Bereiche selbstorganisiert aufgestellt wären.

Urs Witschi
Unternehmensberater Urs Witschi ist in den Bereichen Coaching, Change Management und Corporate Development tätig. Er ist Mitglied des Beraternetzwerks agil.works, das Entwicklungsarbeit zum Thema Agilität in Organisationen leistet und die Erkenntnisse in Beratungen und Workshops umsetzt.

Was ist denn in Streitfällen, wenn man sich zum Beispiel nicht einig wird, wer über die Festtage arbeiten muss? Muss man da so lange diskutieren, bis eine Lösung gefunden ist?
Ja, die Teams müssen das natürlich diskutieren. Sie stehen unter einem grossen Erwartungsdruck: Finden sie keine Lösung, haben sie das Gefühl zu versagen! Das können sie sich nicht leisten. Dazu gibt es auch neue Entscheidungsmethoden wie zum Beispiel den Konsententscheid. Durch Einwandminimierung ist diese Methode sehr zeitsparend. Sollte sich jedoch ein solcher Konflikt verhärten, müsste das Team eine Moderation oder eine andere Form von Hilfe beanspruchen können.

«Ein Gastrobetrieb kann sehr gut durch selbstorganisierte Teams geführt werden.»

Die klassischen Vorgesetzten sind also abgeschafft, aber wenn alles im Team diskutiert wird, gibt es da ja doch Leute, die sich besser durchsetzen können und andere, die nicht so stark sind im Argumentieren. So gleichberechtigt ist das Ganze dann also doch nicht.
Wichtig ist, dass das Team klärt, wie es zusammenarbeiten und die Führung verteilen will, und dass es seine Arbeit reflektiert. Aber es ist immer so: Wer schneller ist, führt. Dafür haben vielleicht Leute, die nicht so im Vordergrund sind, plötzlich sehr gute Ideen oder können andere Rollen übernehmen. In einem Projektteam geschieht das oft situativ. Zum Beispiel, dass jemand sagt: «Es braucht hier eine Moderation, damit nicht so wild durcheinander gesprochen wird. Ich leite das jetzt mal, wenn ihr einverstanden seid.» Das ist schon eine Art von Führung. Und in einem operativen Team wird Führung entsprechend der zugeordneten Rollen wahrgenommen.

Das alles tönt nach sehr vielen und langen Diskussionen.
Ja, es gibt vor allem am Anfang Diskussionen. Sind die Regeln und Rollen aber einmal festgelegt, hat das Team seine Zusammenarbeitsform gefunden. Dann funktioniert es meist gut. Wir haben selber erlebt, wie Teams in dieser Situation äusserst motiviert sind, Power und Ideen entwickeln, sozusagen über sich hinauswachsen!

Die Umstellung von einem klassisch hierarchisch geführten Unternehmen zu einer agilen Organisation ist ein grosser Umbau. Wie läuft er ab?
Zuerst ist wichtig, dass man diesen Schritt nicht einfach wegen eines Trends macht, sondern weil man die Notwendigkeit für den Wechsel sieht: Man will Probleme lösen, an die Spitze oder näher zum Kunden kommen oder kreativer werden. Das Management muss den Wechsel wirklich wollen! Danach folgt die Entscheidung, mit welchen Methoden diese Transformation erfolgen soll. Ist das Projekt angestossen, werden die Massnahmen von Teams entworfen, ausprobiert und – wenn sie funktionieren – verankert. Dazu braucht man professionelle Unterstützung.

Und hier kommt zum Beispiel Ihr Beraternetzwerk zum Einsatz.
Genau. Es braucht einen Katalysator, einen Geburtshelfer. Er hat eine Aussensicht und kann verhindern, dass das Unternehmen einfach ein bestimmtes Modell wählt, auch wenn es vielleicht gar nicht zu ihm passt. Das muss sehr individuell entwickelt werden. Und da muss man methodisch und Schritt für Schritt vorgehen.

Sie haben also Ihre Methoden und Werkzeuge, die sie dann individuell kombinieren?
Es gibt gewisse Prinzipien. Das eine ist, dass wir am Anfang sehr stark mit der Geschäftsleitung arbeiten, das ist ein Muss. Wir klären die Notwendigkeit, die Vision und die Vorgehensweise. Fehlt einer dieser drei Faktoren und steht das Topmanagement nicht unmissverständlich dahinter, bleibt der Wandel meistens stecken. Des Weiteren muss man strategische Leitplanken entwickeln, innerhalb derer die Projektteams nachher arbeiten können. Dabei muss die Nomination der Leute, die im Projekt mitarbeiten, transparent sein und diskutiert werden. Denn es ist wichtig, dass das Projekt nicht einfach im stillen Kämmerlein entwickelt wird, sondern dass man den ganzen Betrieb dafür mobilisiert. Ein weiteres Prinzip ist das sogenannte Time Boxing, das bedeutet Abwicklung innerhalb festgelegter Zeitspannen. Das gibt Spannungsbögen und damit Energie.

Solche Umstellungen lösen auch Ängste aus. Denn bisherige Führungspersonen müssen Macht abgeben, Mitarbeitende können unsicher werden. Welche Erfahrungen machen Sie hier?
Für Vorgesetzte ist es ein grosser Schritt: Sie müssen Macht abgeben – ans System. Und sie müssen den Leuten Vertrauen geben. Es ist wichtig, dass Führungspersonen wissen, dass sie viel effektiver wirken können, wenn sie sich auf die indirekte Führung konzentrieren, wenn sie sozusagen Kultivatoren sind. Aber das müssen sie natürlich sehen oder erfahren können. Viele haben Angst vor diesem Schritt. Sie fragen sich zum Beispiel: Was mache ich dann? Welche Funktion habe ich nachher? Haben dann alle den gleichen Lohn?

«Wir haben selber erlebt, wie Teams 
über sich hinauswachsen!»

Und wie ist es mit dem Lohn? Entscheidet auch darüber das Team?
Die Umstellung zu einer selbstorganisierten Organisation muss schrittweise erfolgen. Ich empfehle, das Lohnsystem fürs Erste einmal zu belassen und eventuell später anzupassen. In der Reinform ist es denkbar, dass das Team innerhalb einer gewissen Lohnspanne selber entscheiden kann. Und wenn die Mitarbeitenden mehr Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse haben, erwarten sie auch Erfolgsbeteiligung. Das Lohnsystem muss man auf jeden Fall sehr sorgfältig entwickeln, sonst gibt es Probleme.

Auch die Personalbeurteilung geschieht auf kollegialer Ebene, das Qualifikationsgespräch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen gibt es nicht. Kann das funktionieren?
Ja, wenn Teams lernen zu reflektieren und zu kommunizieren. Passiert irgendwo ein Fehler, darf man das nicht erst Ende Jahr zur Sprache bringen. Zu den situativen Gesprächen braucht es auch periodische, in denen man auch über die Teamleistung und die Zusammenarbeit spricht. Denn während in der hierarchischen Organisation das Individuum und seine Leistung im Vordergrund stehen, ist bei der agilen Organisation die Teamleistung das Wichtige. Um die Beiträge der einzelnen Mitglieder zu besprechen, gibt es verschiedene Methoden: in kleinen Gruppen, zu zweit oder in der ganzen Gruppe mit anschliessender Vertiefung im Zweiergespräch. Die Besprechung im Team ist übrigens nicht unbedingt ein gegenseitiges Auf-die-Schultern-Klopfen. Leistet jemand seinen Beitrag nicht, kommt er oder sie unter den Druck des Teams, weil dessen Gesamtleistung zurückgeht und es seine Leistungsvorgaben nicht mehr erfüllen kann. Die Teammitglieder sagen dann zum Beispiel: «So kannst du das nicht mehr machen! Wenn du weiter so funktionierst, können wir dich nicht mehr brauchen.» Sie können ein Teammitglied absondern oder sogar entlassen. Das kann sehr hart sein für Betroffene.

Gab es schon Fälle, in denen man mitten in der Umstellung abbrechen musste, weil man merkte, dass die Selbstorganisation doch das falsche Modell ist?
Eher kam vor, dass sich die Selbstorganisation wieder zurückbildete zur Hierarchie. Denn wir sind natürlich noch sehr hierarchiegewohnt und es gibt auch Vorgesetzte, die sich einfach weiterhin hierarchisch gebärden. Eine Rückkehr zur Hierarchie ist auch dann ein Thema, wenn die neue Organisation nicht sorgfältig aufgebaut war, Teams die Orientierung verlieren oder die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen. Aber es gibt viele Unternehmen, in denen es gut funktioniert. Ein Paradebeispiel ist «Morning Star», eine amerikanische Firma, die Tomaten verarbeitet und schon viele Jahre agil und selbstorganisiert läuft. Oder in Europa der ambulante Pflegedienst Buurtzorg in den Niederlanden: 15’000 Mitarbeitende, die in selbstorganisierten Teams von höchstens zwölf Personen arbeiten. Auch viele IT-Firmen arbeiten so. Dort sind ja viele jüngere Leute angestellt. Und ein gelungenes Beispiel aus unseren Reihen sind die Weisse Arena Bergbahnen Laax: Die Mitarbeitenden wollen keinesfalls wieder zurück.

Jüngere sind allgemein weniger hierarchiegläubig.
Stimmt. Sie wollen etwas Sinnvolles machen und dafür durchaus Leistung bringen. Junge Leute möchten nicht unbedingt aufsteigen, sie suchen eine Arbeit, die ihnen sinnvoll erscheint. Es wird immer schwieriger, gute Mitarbeiter zu bekommen, auch in der Gastronomie. Also muss man ihnen etwas bieten – ein Umfeld, in dem sie sich entwickeln und sich selbst sein können. Für ein modernes Unternehmen ist der Stellenwert der Mitarbeitenden sogar noch höher als jener der Kundinnen und Kunden! Junge Leute sind es gewohnt, in Teams zu arbeiten, sie wollen sich einbringen. Und genau das ist gefragt in agilen Organisationen.

Urs Witschis Literaturtipps
«Reinventing Organizations», Frederic Laloux, 
Vahlen, 2016 «Organisation für Komplexität», Niels Pfläging, 
Redline, 2014 «Das kollegial geführte Unternehmen», Bernd Oestereich/Claudia Schröder, Vahlen, 2017 «Wandel durch Vernetzung», Dominik Petersen, 
Urs Witschi, Springer Gabler, 2015

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Tobias Fischer

Autor: Tobias Fischer