Gastronomie Tobias Fischer 08.11.2019

Die (Hoch-)Rechnung, bitte!

Wie viele Pouletschnitzel oder Tortenstücke verkauft ein Restaurant nächste Woche? Das Winterthurer Start-up Prognolite erstellt Prognosen aufgrund von hunderttausenden von Kassenbons, von Wetterdaten und Trends. Gastrofacts spricht mit Mitbegründer Simon Michel über künstliche Intelligenz, Trefferquoten – und über das Wetter.

Simon Michel, die Grundlage für Ihre Prognosen sind die Kassenbons des betreffenden Restaurants. Heisst das, Sie schauen, wie viele Portionen Spaghetti Carbonara
ein Wirt jeweils am Donnerstagabend verkauft und geben ihm dann einfach den Durchschnitt als Prognose an?

Ganz so einfach ist es nicht. Wir speisen alle Kassenbons der letzten ein bis zwei Jahre, historische Wetterdaten, Ferien- und Feiertagsdaten in unser System und berücksichtigen zudem Trends. Unser Algorithmus lernt dann, welchen Einfluss jeder dieser Faktoren auf den Verkauf, zum Beispiel von Spaghetti Carbonara, hatte. Das Ergebnis wird gespeichert. Das ist so ähnlich, wie wenn ein Kind etwas Neues lernt. Sobald wir dann auch noch eine Prognose für diese Faktoren haben – beispielsweise Wetterprognosen, Feiertage, Events – kann prognostiziert werden, wie viele Portionen Spaghetti Carbonara wann verkauft werden. Wir sagen das nicht nur für den Folgetag voraus, sondern für bis zu einen Monat. Und je nach Artikel können wir auch Prognosen für einzelne Tagesabschnitte machen.

Was sagen Ihre Erhebungen denn zum Beispiel über den Einfluss des Wetters?
Das ist mega unterschiedlich. In gewissen Restaurants ist Regen super, etwa in einem Shoppingcenter oder in dessen Nähe. In sehr vielen anderen Restaurants ist Sonnenschein toll, weil sie eine grosse Terrasse besitzen. Wir haben gemerkt: Wenn die Terrasse und der Innenbereich ähnlich gross und ähnlich attraktiv sind, spielt das Wetter keine grosse Rolle. Auch in der Betriebsgastronomie ist das Wetter nicht so entscheidend. Besteht aber ein Missverhältnis zwischen Innen- und Aussenbereich, ist der Einfluss des Wetters sehr, sehr gross.

«Wenn die Terrasse und der Innenbereich ähnlich gross und ähnlich attraktiv sind, spielt das Wetterkeine grosse Rolle.»


Wofür können Sie die erwähnten Tagesabschnitts-Prognosen machen?
Wir können zum Beispiel prognostizieren, wie viel Umsatz morgen zwischen 17 und 23 Uhr gemacht wird. Das ist natürlich auch für Arbeitsschichten relevant, für die Frage, ob jemand diese Schicht übernehmen muss oder nicht.
 

«Wir können prognostizieren, wie viel Umsatz morgen zwischen 17 und 23 Uhr gemacht wird.»

 

Auch wenn es jetzt x-mal gleich war mit dem Verkauf von Spaghetti Carbonara, heisst das immer noch nicht, dass es auch beim nächsten Mal gleich sein wird.
So ist es, und wir alle kennen das von den Wetterprognosen. Eine 100-prozentige Genauigkeit gibt es nie. Wenn wir den Umsatz des nächsten Tages prognostizieren, sind wir aber doch bei einer 90-prozentigen Genauigkeit. Unser Ziel ist natürlich, immer besser zu werden.

 

Wie hoch ist Ihre Trefferquote für längerfristige Prognosen oder für konkrete Artikel?

Bei den Artikeln ist die Betriebsgrösse sehr entscheidend. Bei sehr grossen Restaurants, die grosse Mengen eines Artikels verkaufen, kommen wir nahe an die 90 Prozent. Wo weniger verkauft wird, ist auch die Genauigkeit entsprechend tiefer. Wenn wir auf längere Sicht prognostizieren, sind wir bei Betrieben mit geringer Wetterabhängigkeit fast bei 90 Prozent Genauigkeit. Wo das Wetter dagegen eine sehr grosse Rolle spielt, ist die Prognose einen Monat im Voraus überhaupt nicht verlässlich. Wir kennen Restaurants, die an einem Wochenende mit schönem Wetter dreimal mehr Umsatz machen als an einem verregneten Wochenende.


Nun hat ein Wirt Ihre Prognosen – was macht er damit?
Viele Wirte budgetieren, insbesondere auch für die Personalplanung. Und die Frage, wie viele Mitarbeitende man einsetzt, hängt stark vom Umsatz ab. Unsere Prognosen sind eine gute Grundlage für diese Planung. Zudem werden sie im Foodbereich eingesetzt. Dazu machen wir in der Vorwoche eine Prognose, wie viele von welchen Menüs verkauft werden. Das hilft zuerst einmal beim Einkauf, dann aber auch in der Produktion. Das ist für viele Betriebe eine grosse Hilfe, insbesondere dann, wenn der Restaurantmanager oder der Küchenchef noch nicht lange im Betrieb ist. Denn bis man einen Betrieb kennt und weiss, welche Faktoren welchen Einfluss haben, braucht man auch als erfahrene Fachperson mindestens ein Jahr.


Sehen Sie Ihre Prognosen auch als Beitrag gegen Food Waste?
Ganz klar, ja. Wir sind Mitglied von United Against Waste und engagieren uns bei Anlässen zum Thema. Ein Teil unserer Entwicklungskosten wurde von der Klimastiftung
Schweiz übernommen, zusätzlich wurden wir auch durch den Klimafonds Stadtwerk Winterthur unterstützt. Von der Europäischen Kommission erhielten wir ein wichtiges Förderpaket, unter anderem genau deshalb, weil Food Waste ein Riesenthema ist.


Wie verbreitet ist Ihr System?
Wir sind noch ganz am Anfang. Das System ist nun in 15 Restaurants im Einsatz, die meisten davon gehören zu einer Kette. Auch grosse und bekannte Player sind darunter.

 

Und wie sind die Rückmeldungen und Erfahrungen?
Die Rückmeldungen sind sehr gut. Eine Herausforderung ist, dass Restaurants für die richtige Nutzung unserer Prognosen ihre Prozesse anpassen müssen. Das heisst, im Betrieb müssen Strukturen geschaffen werden, damit die Prognosen richtig interpretiert und Handlungen abgeleitet werden können. Und in Sachen Genauigkeit sind wir zwar unübertroffen, wenn wir uns mit Restaurantmanagern und Küchenchefs vergleichen, aber gerade wenn es um spezielle Tage oder interne Events geht, ist der Mensch bei der Prognose immer noch besser als die Maschine.

«Im Betrieb müssen Strukturen geschaffen werden, damit Handlungen abgeleitet werden können.»

 

Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, solche Prognosen für die Gastronomie zu entwickeln?
Ich arbeitete zweieinhalb Jahre lang bei den EKZ, den Elektrizitätswerken des Kantons Zürich. Im Bereich Strombeschaffung war ich dafür verantwortlich, etwa zehn Prozent des Schweizer Stromverbrauchs zu prognostizieren. Bis zu fünf Jahre in die Zukunft prognostizierte ich den Stromverbrauch für jede einzelne Viertelstunde. Das war eine mega spannende Tätigkeit. Der zweite Auslöser war, dass ich im Personalrestaurant öfters kein Vegimenü mehr bekam und man mir sagte, man wisse halt nie, wie viele Gäste
kommen und was sie essen würden. Etwas später musste ich dann in einem Selbstbedienungsrestaurant in den Bergen mega lang an der Kasse warten, weil es sehr viele Leute hatte und trotzdem nur zwei von vier Kassen offen waren. Ich fragte mich, warum denn nicht alle Kassen besetzt waren. Auf die Antwort kam ich später auf dem Skilift: Auch hier wusste man nicht, wie viele Gäste kommen würden. Ein verbreitetes Problem – und ich hatte dank meinen Erfahrungen im Strommarkt eine Ahnung, wie man es lösen könnte. So gründete ich vor gut drei Jahren gemeinsam mit einem Sportkollegen die Firma Prognolite. Seither arbeiten wir an der Entwicklung.

 

Was waren die grössten Herausforderungen bei der Entwicklung?
Am schwierigsten war, die Daten – sprich: die Kassenbons – zu bekommen. Praktisch jedes moderne Kassensystem birgt einen riesigen Datenschatz aus den letzten
Jahren. Diese Daten wollen wir abgreifen, je nach Restaurant verarbeiten wir bis zu 1,5 Millionen Kassenbons. Die Gastronomen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind da zwar sehr offen, doch die Schwierigkeit besteht darin, dass in der Schweiz etwa 20 verschiedene Kassensysteme verbreitet sind. Deshalb mussten und müssen wir entsprechend viele verschiedene Schnittstellen bauen. Wir haben erst etwa die Hälfte. Die zweite grosse Herausforderung in der Entwicklung ist die Automatisierung des ganzen Prozesses. Da die Margen in der Gastronomie nicht hoch sind, muss der Preis für das System sehr konkurrenzfähig sein, und das erreichen wir nur durch sehr automatisierte Prozesse.

 

«Je nach Restaurant verarbeiten wir bis zu 1,5 Millionen Kassenbons.»

 

Mal ohne Prognose: Wie sehen Ihre Unternehmensziele aus?
Wir wollen wachsen und international werden. Der nächste Markt, den wir im Visier haben, ist Deutschland. Dafür haben wir bereits konkrete Pläne. Schlussendlich wollen wir auch in anderen europäischen Ländern tätig sein.

 

Simon Michel
Der Mitbegründer der Prognolite GmbH in Winterthur ist 29 Jahre alt und gründete bereits mit 17 sein erstes Unternehmen. Mit der Reparatur von iPods und iPhones machte er damals als Gymnasiast gemeinsam mit Kollegen, die er anstellte, knapp 100’000 Franken Umsatz pro Jahr. Von dieser Erfahrung profitierte Simon Michel im anschliessenden
Betriebswirtschaftsstudium. Nach dem Studium war er zweieinhalb Jahre für die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) in der Strombeschaffung tätig. Vor gut drei Jahren gründete er gemeinsam mit Roman Lickel die Prognolite GmbH.

Tobias Fischer

Autor: Tobias Fischer