Pop-up
Hotellerie Michaela Ruoss 20.08.2018

Pop-ups: Sie kommen, um zu gehen

In der Schweiz sind Shops, Restaurants und Hotels auf Zeit in den letzten Jahren extrem populär geworden. Ein Trend ohne Ende?

Manhattan. Midtown. Mittag. «Oh my God!» Die zierliche, weisshaarige Dame vor mir stoppt abrupt. Der Zusammenprall ist unausweichlich. Noch bevor ich mich entschuldigen kann, packt sie mich am Ärmel. «Oh my God!» Sie schaut mich entgeistert an und deutet Richtung Schaufenster. «It was just here ...» Es ist leer, der Laden weg. Und da dämmert es mir. Sie hat keine Ahnung, was ein Pop-up-Shop ist. Einer, wie es in New York unzählige gibt.

Im Wilden Westen aufgepoppt

Was man früher nur im World Wide Web als nerviges, kleines Fenster vor der Nase hatte, begegnet einem inzwischen in der realen Welt praktisch täglich: «Pop-up» ist zu einem Modewort geworden. Alle Formen von temporären Läden, Restaurants, Bars und Hotels laufen derweil unter diesem Begriff – auch das, was früher schlicht Zwischennutzung hiess. Laut der Studie «Britain,s Pop-Up Retail Economy» kommt die Pop-up-Bewegung – wie so vieles – aus den Vereinigten Staaten, wo die Firma Govacant 1999 in Kalifornien begann, mit Kunden das Konzept sogenannter Guerilla-Stores auszuprobieren.

Pop-up-Stores gibt es also seit bald 20 Jahren – auch in der Schweiz. Marco Rampinelli eröffnete seinen ersten Store bereits 1998: «id1» an der Kirchgasse in Zürich. «Es gab damals viele Labels, die sich keinen eigenen Laden leisten konnten», sagt der Pop-up-Pionier. Als er dann eine Ladenfläche angeboten bekam, nutzte er die Gelegenheit, zusammen mit befreundeten Designern einen Laden zu eröffnen. «Und so ergab sich das mit dem Pop-up.» Nach dem ersten Erfolg seien ihm immer wieder Top-Locations in der Stadt angeboten worden.

Herausforderungen wie bei jedem Shop

Das klingt, als sei das mit den Pop-up-Shops all die Jahre für ihn immer so einfach gewesen. War es das? Der 47-Jährige lacht und schüttelt den Kopf. Wie bei allem seien bei jedem Shop Geld, Produkte und Ideen die grössten Herausforderungen gewesen – in dieser Reihenfolge. Letzteres war auch der Grund, warum für Rampinelli nach «id15 – Art of Chalet Chic» an der Kreuzstrasse in Zürich Schluss war. «Mit drei Kids musste ich ausserdem Prioritäten setzen, zum Wohle der Familie. Und so ging ich zurück zu meinen Wurzeln. Aber nicht, dass ich keine Träume mehr hätte ...» Woran liegt es, dass Rampinelli lange einer der einzigen war, die sich den Traum vom Pop-up verwirklicht haben? Sind Schweizer zu wenig experimentier- oder risikofreudig? Weit gefehlt.

«In der Schweiz war das Angebot an verfügbaren Flächen viel kleiner als beispielsweise in England oder Deutschland.»

Chalid El Ahsker Gründer von Popupshops.com

Laut Chalid El Ashker, dem Gründer von popupshops.com, gab es schon damals eine Nachfrage nach kurzzeitiger Fläche in der Schweiz – einfach nur im kleinen Rahmen. Dass der Trend erst die letzten paar Jahren abgehoben hat, dafür sieht der Experte mehrere Gründe: Die Immobilienkrise war in der Schweiz vor zehn Jahren noch kein grosses Thema, und E-Commerce wesentlich weniger ausgeprägt als in anderen Ländern. «Dementsprechend war das Angebot an verfügbaren Flächen viel kleiner als beispielsweise in England oder Deutschland, wo es schon länger mehr Leerstand gab.» Damit war es in der Schweiz wesentlich schwieriger, die passende Location zu finden. Chalid El Ashker weiss, wovon er spricht. «Im Jahr 2007 leitete ich einen Online-Shop für Herrenmasskleidung, ein Start-up, und suchte vergeblich nach Pop-up-Flächen.» Die wenigen freien Flächen seien nicht verfügbar gewesen, weil sich die Eigentümer nicht auf einen Mietvertrag über drei Monate einlassen wollten. Der administrative Aufwand sei zu gross, habe es geheissen. «Ich wollte wissen, ob ich der Einzige mit diesem Problem war und ging mit popupstore.ch online. Es stellte sich bald heraus, dass ich nicht der Einzige war.» Mit der popupshops.com startete er dann allerdings erst 2015, als er merkte, dass Bewegung in den Markt kam. «Seither hat sich alles extrem schnell entwickelt. Durch den Strukturwandel im Schweizer Retail ist innert kurzer Zeit viel Verkaufsfläche verfügbar geworden.» Für ihn steht fest, dass Pop-ups keine Notlösung sind, sondern langfristig einen festen Platz in Retail und Gastronomie haben. Sowohl als Point of Sale als auch Point of Experience.

Gründen auf den Grund gegangen

Was macht Pop-ups so spannend? Laut Christian Fichter, Wirtschaftspsychologe und Forschungsleiter der Kalaidos Fachhochschule, sind sie das ultimative Vehikel, verkaufspsychologische Tricks zu nutzen. «Es lässt sich mit kaum etwas anderem so viel Spontanität, Neugier und Dringlichkeit bei Konsumenten erzeugen wie mit einem Pop-up.» Heisst das, unter Zeitdruck kaufen sie mehr und sind unter Umständen auch bereit, tiefer in die Tasche zu greifen?

Der Experte verneint. Vielen Unternehmen gehe es gar nicht um Absatz oder Absatzsteigerung, sondern vielmehr um drei andere Dinge. «Erstens einmal Unternehmensentwicklung: Pop-ups sind eine Möglichkeit, ohne grösseres Risiko etwas Neues auszuprobieren – eine neue Strategie beispielsweise.» Als Beispiel nennt Fichter Ikea und Brack, die sich im letzten Herbst temporär an der Zürcher Bahnhofstrasse eingemietet hatten, um ihre Produkte dem Kunden für einmal in einem Boutique-Store mitten im Stadtzentrum statt in einem riesigen Center in der Agglomeration oder nur online zu präsentieren.

Zweitens seien physische Läden die perfekte Gelegenheit, um Marktforschung zu betreiben: Pop-up-Stores seien wahre Forschungslabore. Die Unternehmen können hautnah herausfinden, wie sich die Kunden im Laden bewegen, was sie bestellen und was sie sonst noch alles beschäftigt. «Im kleinen Laden sind Kunden oftmals eher bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Unternehmen können haufenweise Daten über ihre Kundschaft sammeln.» Und dann gibt es gemäss Experten noch eine dritte Motivation: Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Fischergalgen für eine Nacht

Das beste Beispiel für diesen Beweggrund sind die Pop-up-Hotels, die man seit Juni und bis im September in elf Schweizer Städten buchen kann: das Alte Zollhäuschen beim Bärengraben in Bern, ein Zimmer in der Torre Bianca des Castelgrande in Bellinzona oder eines im Garten des Beau-Rivage Palace in Lausanne. Diese Pop-ups sind Teil der Sommer-Städte-Kampagne 2018 von Schweiz Tourismus. Die Pop-ups sollen Gästen ermöglichen, an einem Ort eine Nacht zu verbringen, an dem so etwas bisher nicht denkbar war. «Städtereisen sind im Trend», erklärt Direktor Martin Nydegger. «Für uns ist es wichtig, genau jetzt die Schweizer Städte zu bewerben.»

«Im kleinen Laden sind Kunden oftmals eher bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen.»

Christian Fichter

Die Kampagne scheint zu funktionieren: In den letzten Monaten haben nicht nur unzählige Medien über die ungewöhnlichen Hotels in den elf Schweizer Städten berichtet, eine Location der neuen Hotelkampagne war 24 Stunden nach Bekanntmachung bereits ausgebucht: der Fischergalgen in Basel. Das idyllische Fischerhäuschen, das direkt am Rhein liegt, ist den ganzen Sommer über nicht mehr buchbar.

Ob die Pop-up-Hotels auch 2019 ihre Türen öffnen, ist noch völlig offen, heisst es bei Schweiz Tourismus. Und ob eine ähnliche Kampagne in Folgejahren erneut umgesetzt wird, könne erst nach der Evaluation entschieden werden. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung des diesjährigen Konzepts werde es wohl aber nicht geben – das würde der Idee nicht gerecht.

Entwicklung ist essenziell

Das macht Sinn. Entwicklung ist laut Experte Fichter ein ganz elementarer Wesenszug von Pop-ups: «Früher, in den guten alten Zeiten des Anfangs, hat man das mehr oder weniger guerillamässig alles selber gemacht. Heute kann man auf Dienstleister zurückgreifen, die einem alles von der Einrichtung über die Kommunikation bis hin zum Zelteabbrechen zu einem erschwinglichen Preis erledigen.»

«Es geht um mehr als nur einen zeitlich beschränkten Shop oder ein Restaurant aus dem Boden zu stampfen.»

Christian Fichter

In der Professionalisierung liege allerdings auch die Gefahr, dass Alleinstellungsmerkmale wie Spontaneität, Flüchtigkeit, Improvisationsgeist und Experimentierfreudigkeit verloren gehen würden – und dass sie für den Kunden nicht mehr attraktiv seien. Wer heute mit einem Pop-up Erfolg haben wolle, müsse sich etwas einfallen lassen. «Es geht um mehr als nur einen zeitlich beschränkten Shop oder ein Restaurant aus dem Boden zu stampfen, sondern darum einen spontanen, innovativen, spielerischen Umgang mit Wirtschaft zu pflegen – oder vielmehr – voranzutreiben. Das muss passieren.» Banale, langweilige Pop-ups würden Leute heute nicht mehr begeistern. In einem übersättigen Markt könne nur noch etwas oder jemand erfolgreich sein, der extrem gut oder überraschend kreativ sei – oder einen Star einspanne.

Ein Star als Zugpferd

Ein Beweis, dass ein Star als Zugpferd funktioniert, ist das Pop-up- Restaurant Stadthalle in Zürich, das vom 1. bis 23. Dezember 2017 und vom 3. Januar bis 4. Februar 2018 zu Tisch bat. Am Herd stand Nenad Mlinarevic. Er holte sich im «Focus» im Park Hotel Vitznau 2 Michelin-Sterne und 18 Gault-Millau-Punkte und ist vom Gastroführer 2016 zum Schweizer Koch des Jahres ausgezeichnet worden. Für das Projekt tat er sich mit Sommelier Patrick Schindler und dem Zürcher «Pop-up-König» Valentin Diem alias Valefritz zusammen.

Diem, der sich in der Szene mit Projekten wie dem «Soi Thai» oder «Wood Food» einen Namen gemacht hatte, wusste, wie er die Social- Media-Werbetrommel zu rühren hatte. Und so war das Restaurant schon lange vor der Eröffnung bis zur Weihnachtspause praktisch ausgebucht. Bis auf den letzten der 250 Plätze. Jeder davon bot einen Blick auf die Küche, wo Mlinarevic und seine Crew moderne Sharing-Dishes zubereiteten – Topinambur mit Mandeln, fermentiertem Knoblauch und Kräutern zum Beispiel. Oder Schweinebauch mit Kopfsalat, Pickles, Koriander und Chili.

Ebenfalls schon vor der Eröffnung war klar, dass dieses Pop-up für den Sternekoch eine einmalige Sache sein würde. Langfristig brauche er seine Basis, sagt Mlinarevic. Zudem geht in seinen Augen der allgemeine Trend hin zu «demokratischen Konzepten». Zum Glück. Denn so brennt niemand an, der Gerichte à la «Stadthalle» nochmals essen will. Kaum zwei Monate nachdem in der «Stadthalle » Schluss war, hat das Trio Mlinarevic, Schindler und Diem eine feste Basis eröffnet: die «Bauernschänke» in Zürich.

Michaela Ruoss

Autorin: Michaela Ruoss