Heime & Spitäler Janine Keller 06.04.2020

Spitalaufenthalt im 3-Sterne-Hotel

Spital und Hotel in einem. Das Patientenhotel in Lausanne beherbergt nicht nur Touristen und Geschäftsreisende, sondern auch Patienten und Patientinnen des Waadtländer Kantonsspitals.

Eine ältere Dame sitzt in einem Behandlungszimmer und wartet auf ihre intravenöse Antibiotikatherapie. Sie erholt sich gerade von einer Operation. Von welcher genau, möchte sie lieber für sich behalten. Vor vier Tagen wurde sie im Waadtländer Kantonsspital (CHUV) operiert. Weitere vier bis fünf Tage muss sie zur Nachkontrolle unter medizinischer Aufsicht bleiben. Das Behandlungszimmer befindet sich jedoch nicht im Krankenhaus. Und die 70-jährige Patientin trägt auch kein weisses Nachthemd. Sie sitzt in einem dunkelblauen Zweiteiler auf dem Behandlungsstuhl, die grauen Haare adrett zurechtgemacht. «Hier fühle ich mich nicht krank», sagt sie und lacht.

«Hier fühle ich mich
nicht krank.»

Patientin im Patientenhotel

Zwischen Gast und Patient

«Hier» ist das «Hôtel des Patients» in Lausanne, das sowohl Hotel als auch Spital ist. Vor drei Jahren neben dem CHUV erbaut, werden regelmässig sogenannte Low-Care-Patienten vom Spital ins Hotel verlegt. Das sind Patienten, die spitalbedürftig sind und täglich ärztliche Behandlung benötigen, sich aber weitgehend autonom bewegen können. Die Patientin am Antibiotikatropf ist eine davon. «Im Patientenhotel bin ich ganz frei und kann selbst bestimmen, wann ich essen oder mich ausruhen möchte», sagt sie und zieht einen kleinen Notizzettel hervor, auf dem sie sich die Öffnungszeiten des Restaurants sowie ihre Behandlungstermine aufgeschrieben hat. Dreimal am Tag benötigt sie eine Antibiotikainfusion. Dafür begibt sie sich selbstständig in eines der vier Behandlungszimmer, die sich unauffällig hinter der Rezeption befinden. Zwischen den Behandlungen liest sie, trinkt Kaffee im Hotelrestaurant oder ruht sich im Zimmer aus.

 

Fast wie im Spital

Das Pflegepersonal des Patientenhotels macht keine Zimmervisite. Das sei auch nicht nötig, meint Jerôme de Torrente, Leiter des zehnköpfigen Pflegeteams. «Wir betreiben Transitionspflege. Das heisst, wir bereiten die Patienten mental auf ihren Alltag zuhause vor. Dazu gehört, dass sie mehr Eigenverantwortung übernehmen und ihnen gleichzeitig mehr Intimität und Mobilität ermöglicht wird», sagt de Torrente und entlässt die Patientin im blauen Zweiteiler mit ihrer Tagesration an Medikamenten. Es ist 8 Uhr morgens und das Hotel wacht allmählich auf. Das Hotelrestaurant füllt sich mit Gästen, darunter Pärchen aus Frankreich und der Schweiz, die ein verlängertes Wochenende in Lausanne verbringen, Geschäftsreisende im Anzug und mit Laptops, und eben Spitalpatienten. Wer wer ist, erkennt man auf den ersten Blick nicht. Einzig ein schwarzes Notfallarmband mit integrierter GPS-Funktion verrät, wer medizinisch überwacht wird. Drückt der Patient den Knopf am Band, kann er im ganzen Hotel ausfindig gemacht werden.

«Wir bereiten die Patienten
mental auf ihren Alltag
zuhause vor.»

Jerôme de Torrente
Leiter Pflege im Patientenhotel

Erholung nach Geburt

Unter den Gästen befinden sich auch drei junge Paare, die wenige Stunden zuvor Eltern geworden sind. Sie scheinen in ihrer eigenen Welt zu sein und trinken Kaffee, während sie ihre Neugeborenen im Spitalkinderwagen eingehend betrachten. Im fünften Stock des Patientenhotels befindet sich die geschlossene Geburtenabteilung, die von weiteren zehn Pflegenden betreut wird. Sofern eine Geburt im CHUV komplikationsfrei verläuft, werden Mutter und Kind kurz danach ins Patientenhotel verlegt. Die Zimmer im fünften Stock sind mit Wickeltischen, Stillkissen und Kinderwägen ausgestattet und verfügen über ausziehbare Betten, die die Väter für 30 Franken pro Nacht dazumieten können. «Mütter, die schon einmal bei uns waren, rufen bereits Monate vor ihrer nächsten Geburt an, um ein Zimmer zu reservieren», sagt Hoteldirektorin Stéphanie Abel. Vorgängige Reservationen sind jedoch nicht möglich, denn nur Ärzte können eine Verlegung ins Hotel veranlassen, sofern sie den Zustand des Patienten als medizinisch stabil beurteilen.

 

Win-Win-Situation

«Das Patientenhotel entlastet das Spital bei Bettenstau und gewährleistet Patienten, die sich autonom bewegen, aber noch nicht entlassen werden können, eine komfortable medizinische Versorgung bei mehr Privatsphäre», sagt Catherine Cossy, Kommunikationsverantwortliche des CHUV. Auch finanziell ist das Modell lohnenswert. Während im Akutspital eine Nacht durchschnittlich 800 Franken kostet, beläuft sich eine Nacht im Patientenhotel auf 300 Franken und wird gleichermassen von der Krankenkasse anerkannt. «Das Patientenhotel ist Teil des Universitätsspitals CHUV. Die Grundversicherungen übernehmen dementsprechend Leistungen des Patientenhotels», sagt Matthias Müller, Leiter Kommunikation des Krankenkassenverbands Santésuisse. Auch im Patientenhotel gelten gewisse Spitalstandards. Die Zimmer werden jeweils desinfiziert statt wie im Hotel bloss gereinigt und die Hotelküche verwendet etwas weniger Salz. Hotelluxus wie Zimmerservice oder Minibar? Fehlanzeige. «Der einzige Luxus, den unsere Gäste brauchen, ist Ruhe und das Gefühl, umsorgt zu werden», sagt Direktorin Abel. So gibt es für alle Patienten helle Einzelzimmer, die pragmatisch eingerichtet und in freundlichen Tönen gehalten sind.

«Das Patientenhotel entlastet
das Spital bei Bettenstau
und gewährleistet Patienten
mehr Privatsphäre.»

Catherine Cossy
Kommunikationsverantwortliche CHUV

Öffentlich-private Partnerschaft

Für die Realisierung des Patientenhotels hat das Waadtländer Kantonsspital mit einem privaten Anbieter zusammengespannt. Die Schweizer Aktiengesellschaft Reliva entwickelt und betreibt seit einigen Jahren Patientenhotels und Seniorenzentren. Von vergleichbaren Patientenhotels in Deutschland, Schweden und den USA inspiriert, hat Reliva das Konzept an den Schweizer Markt angepasst, der laut dem Unternehmen viel Potenzial birgt. «Bei einer Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft entstehen Vorteile für beide Seiten. Wir sind beim Patientenhotel für die bauliche Infrastruktur und die Hotelleistungen zuständig, während das CHUV das medizinische Know-how sowie die Patientenüberweisung einbringt», so Benoît Kemmling, Leiter Projektentwicklung bei Reliva. Die AG sei für weitere potenzielle Patientenhotels bereits mit anderen Schweizer Spitälern im Gespräch.

 

Krankheiten entstigmatisiert

Auch für Hoteldirektorin Stéphanie Abel ist das Patientenhotel eine neue Erfahrung, nachdem sie früher stets in traditionellen Hotelbetrieben gearbeitet hat. «Hier wird einem menschlich viel mehr abverlangt. Es braucht ein spezielles Feingefühl, auf die Patienten zuzugehen, die sich beispielsweise von einer Tumoroperation erholen. Gleichzeitig hat man viel mehr das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden», sagt die Direktorin. So nehmen sich die Rezeptionisten jeweils 15 bis 20 Minuten Zeit für einen Check-in, um neuen Gästen alles genau zu erklären und sie anschliessend persönlich in ihr Zimmer zu begleiten. Auch das Verhältnis zwischen Patienten und Urlaubsgästen sei feinfühliger. «Das Zusammenleben schafft mehr Akzeptanz und Offenheit gegenüber kranken Personen», so Abel. Dies spürt auch die Patientin am Antibiotikatropf, die gerne hin und wieder einen freundlichen Schwatz mit anderen Gästen hält. Sie freut sich nun auf ihr Zuhause, würde aber gerne einmal als Feriengast ins Patientenhotel zurückkehren.

«Wichtig sind Absprachen und Kompromisse»

Private Public Partnership (PPP) ist die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft. Im Fall des Patientenhotels in Lausanne sind dies das Waadtländer Kantonsspital und die Aktiengesellschaft Reliva.

Worauf zielt das PPP-Modell ab?

Zentral ist die Schnittstelle zwischen zwei Expertenwelten. Beim Patientenhotel beispielsweise bringt das CHUV das gesamte medizinische Know-how sowie die Patientenüberweisung ein, während wir für die bauliche Infrastruktur und die Hotelleistungen zuständig sind.

«PPP hat in der Schweiz
grosses Potenzial.»

 

Das Patientenhotel wurde als Start-up auf den Markt geführt. Was macht es so innovativ?

Einerseits die Mischung aus regulären Hotelgästen und Spitalpatienten unter einem Dach. Andererseits gibt das Patientenhotel Antwort auf ganz spezifische Ansprüche der Patienten, wie zum Beispiel einfache Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige und die Nähe zum Hauptgebäude des Partnerspitals.

 

Gibt es in der Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft ab und an Interessenkonflikte?

Bisher lief die Zusammenarbeit reibungslos. Wichtig sind eine regelmässige Absprache und die Bereitschaft für Kompromisse. So könnte aus Marketingsicht argumentiert werden, dass der Name Patientenhotel gegenüber regulären Hotelgästen etwas ungünstig gewählt sein könnte. Doch beide Parteien müssen offen sein und vor allem im Interesse der Öffentlichkeit handeln, da man schlussendlich mit öffentlichen Geldern operiert und der kurzfristige finanzielle Erfolg nicht die Hauptmotivation der Zusammenarbeit ist. Der Name passt daher, da er die Zugehörigkeit zum Spital impliziert und reguläre Hotelgäste über die Art des Hauses informiert.

Sind weitere Patientenhotels in der Schweiz geplant?

Wir sind mit verschiedenen Universitäts- und Kantonsspitälern in Kontakt, können zum momentanen Zeitpunkt jedoch noch nicht mehr sagen. Ein zentraler Faktor bei der Entwicklung eines Patientenhotels ist die kurze Distanz zum Spital. Bei vielen Krankenhäusern fehlt in der unmittelbaren Umgebung der Platz für ein weiteres grosses Gebäude oder aber Zonenordnungen erschweren eine Realisierung.

«Bei PPP geht es darum,
Dienstleistungen neuen
Ansprüchen anzupassen.»

 

In Schweden oder den USA ist das PPP-Modell bereits weit verbreitet. Weshalb in der Schweiz nicht?

Ein verbreitetes Vorurteil gegenüber dem PPP-Modell ist oft, dass es ein grosses Risiko birgt und lediglich den Privatunternehmen nützt. Zudem ist man im Zusammenhang mit öffentlichen Geldern stets verpflichtet, transparent zu wirtschaften. Tatsächlich jedoch profitieren beide Parteien von einer solchen Zusammenarbeit, da zwei Kompetenzwelten vereint werden und die aufwendige Administrationsarbeit zusammen bewältigt werden kann. Wichtig bei der Umsetzung ist eine klare Organisationsstruktur auf strategischer und operationeller Ebene.