Amphoren
Gastronomie Peter Keller 20.08.2018

Neuer Wein in alten Krügen

Amphoren wie bei den alten Römern oder Qvevri wie in Georgien: Schweizer Weinbauprofis entdecken den Tonkrug neu. Das Resultat: ein oranger Wein.

Die Neuigkeit heisst Zagara. Auf Sizilianisch bedeutet Zagara Orangenbüte, was nicht unbedingt auf Wein schliessen lässt. Und dennoch: Auf dem Weingut der Tessiner Winzerfamilie Ferrari in Capolago können die Gäste einen neuartigen Weisswein degustieren, der genau so heisst. Einer, der in einer Amphore gegoren und gereift wurde. Im Weinkeller steht ein riesiger, fast zwei Meter hoher, bauchiger Tonkrug, der inmitten der gewohnten Stahltanks ziemlich exotisch aussieht.

«Es gibt Konsumenten, die den Zagara nicht mögen, andere aber verlieben sich in ihn.»

Andrea Ferrari
Winzer

Nicht jedem Gast mundet dieser Wein. «Es gibt Konsumenten, die den Zagara nicht mögen, andere aber verlieben sich in ihn», sagt Andrea Ferrari und hebt sein Glas in Richtung Nase. Der Zagara ist eine Assemblage aus Viognier und Chardonnay, die Farbe ist goldgelb, seine Aromen sind fruchtig mit erdigen und honigartigen Noten. Ungewohnt, aber durchaus sympathisch. Gekauft wird er vor allem von jüngeren Leuten, die neugierig sind und natürliche, möglichst biologische Weine suchen. Mittlerweile findet man den Zagara auch in zwei Tessiner Restaurants.

Spitzenweine sind ihm nicht genug

Andrea Ferrari ist jung, mutig und experimentierfreudig. Die Weine seines Familiengutes erhalten regelmässig Bestnoten. Doch er suchte nach etwas Neuem, als Ergänzung zu seinen Traditionsweinen. Er fuhr nach Sizilien und kaufte eine grosse Amphore mit einem Fassungsvermögen von 1000 Litern. Das Gefäss ist aus Cocciopesto, einer Mischung aus Kalk und Tonscherben, gefertigt. Dieses Material benutzten die alten Römer für den Bau ihrer Häuser. Fachgerecht behandelt, hält die Amphore ewig.

In die Amphore kommen geraspelte, von den Schalen befreite Beeren von weissen Trauben. Der Most wird traditionell mit Reinzuchthefe zur Gärung gebracht, danach folgt der biologische Säureabbau. Durch die bauchige Form der Amphore findet eine natürliche Zirkulation statt, die Hefe schwebt in der Flüssigkeit. «Die Gärung muss gut überwacht werden, um einen ausgewogenen Wein zu erhalten», sagt Andrea Ferrari. «Ich verzichte auf Sulfite und andere Zusätze.» Nach der Gärung reift sein Wein ein Jahr lang in der Amphore.

«Die Gärung muss gut überwacht werden, um einen ausgewogenen Wein zu erhalten.»

Andrea Ferrari

Andrea Ferrari füllt seinen Zagara direkt von der Amphore in die Flasche, ganz ohne Filterung. Nach weiteren zwei Jahren ist der Wein ausgereift. Er bleibt trüb, Hefereste bilden einen Satz am Flaschenboden. «Das muss ich den Konsumenten erklären», meint er und liefert noch einige Ratschläge. «Der Zagara muss in Dunkelheit gelagert werden, denn Licht lässt ihn rasch oxidieren. Und eine geöffnete Flasche sollte leergetrunken werden. Denn dieser Wein entfaltet sich an der Luft sehr schnell.»

Winzer Ferrari will neuartige Weine herstellen, die nach modernen önologischen Methoden, aber in antiken Gefässen gegoren und ausgereift werden. Die Weinherstellung in Tongefässen ist alt, sehr alt. Um dies zu verstehen, müssen wir nach Georgien fahren und einige Jahrtausende zurückblicken.

Wein entsteht im Neolithikum

Vor etwa 8000 Jahren begannen die Menschen in Mittel- und Nordeuropa sesshaft zu werden. Aus Sammlern und Jägern wurden Ackerbauern. Sie betrieben Viehzucht, beherrschten die Herstellung von Werkzeugen, erfanden die Töpferei und bauten Häuser und Siedlungen. In Mesopotamien entstand vor ca. 6000 Jahren Jericho, die erste Stadt der Menschheit.

Und genau zu dieser Zeit wurde in der Region des heutigen Georgiens der Wein erfunden. Hier haben Menschen entdeckt, dass Traubensaft zu Wein wird, wenn man ihn vergären lässt. Dies beweisen Funde von Tonscherben und Traubenkernen aus dem 4. Jahrtausend vor Christus, die im Nationalmuseum der georgischen Hauptstadt Tiflis aufbewahrt werden.

In der Antike galt Wein als das Getränk, das Sonne und Erde miteinander verbindet, und war für die Götter bestimmt. Die ursprüngliche Herstellungsmethode aus der Jungsteinzeit ist bis heute erhalten geblieben. Nicht wenige georgische Winzer stellen ihren Wein immer noch in grossen, in der Erde vergrabenen, spitz zulaufenden Gefässen aus Ton her, in sogenannten Qvevris. Darin vergärt der Traubensaft mit der Maische samt Stielen, Kernen und Schalen und ruht dann monatelang, quasi sich selbst überlassen, bis zur Trinkreife. Das Verfahren wurde 2013 von der Unesco in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Dieses Erbe ist jedoch gefährdet. Nur noch vier bis fünf Töpfer beherrschen in Georgien die traditionelle Herstellung der Qvevris. Und dies obwohl diese natürliche Methode eigentlich voll im Trend liegt: Weltweit suchen immer mehr Konsumenten nach Produkten, deren Geschmack in Handarbeit, Langsamkeit und Naturbelassenheit wurzelt.

Qvevri-Weine sind einmalig und ungewohnt. Weissweine haben eine bernsteinfarbige, orange Färbung, Rotweine sind fast schwarz. An den Geschmack muss man sich gewöhnen. Er ist völlig anders als das, was man heute unter Wein versteht. Wer Qvevri-Wein getrunken hat, spricht von einer rustikalen Offenbarung, die zuerst ungehobelt und unfertig wirkt, einen überfordert und dann belohnt. Das macht neugierig.

Götterwein aus Winterthur

Zurück in die Schweiz. Im Jahr 2013 kam ein Lastwagen aus Georgien nach einer langen Fahrt durch den Kaukasus, über die Türkei und entlang dem Balkan in Winterthur-Wülflingen an. An Bord befand sich eine kostbare, zerbrechliche Ladung: ein original georgischer Qvevri, ein grosses Gefäss aus getrocknetem Ton. Vorsichtig wurde der 600 Kilogramm schwere Qvevri stehend in ein grosses Erdloch am Fusse des Rebberges gelegt und bis zum Rand eingegraben. Bestellt hatte ihn Michele Bono, Betriebsleiter Rebbau und Trotte beim Strickhof, dem Deutschschweizer Kompetenzzentrum für Bildung und Dienstleistungen in der Land- und Ernährungswirtschaft. «Wir sind ein Schulungsbetrieb und wollen unseren Schülern zeigen, was in der Weinherstellung alles möglich ist», erklärt Michele Bono. So sehen die Strickhofschüler nicht nur die Wichtigkeit absoluter Hygiene im Weinkeller, sondern auch, wie man Hygiene anders angehen muss, wenn der Wein in der freien Natur produziert wird, ganz nach dem Ursprung der Weinherstellung.

«Am Anfang kämpften die unterschiedlichen Hefen noch miteinander, es roch fürchterlich nach Nagellack.»

Michele Bono
Betriebsleiter Rebbau und Trotte, Strickhof

Michele Bono ist kompromisslos. Er will einen Wein nach dem Vorbild aus der Geschichte der Menschheit machen. Dazu braucht er kerngesunde, voll ausgereifte Trauben. Bei seinem ersten Versuch war es ein Riesling-Sylvaner. Die Trauben gab er samt Rappen, Schalen und Kernen in den Qvevri und zerdrückte sie dann barfuss so leicht, dass die Kerne intakt blieben. Dann liess er die Maische spontan gären. «Am Anfang kämpften die unterschiedlichen Hefen noch miteinander, es roch fürchterlich nach Nagellack », sagt Michele Bono. Doch plötzlich setzten sich die guten Hefen durch, dann konnte man den Qvevri gasdicht verschliessen und der Natur ihren Lauf lassen. Der Qvevri ist innen mit Bienenwachs beschichtet. Das hält die Flüssigkeit im Gefäss, das Gärgas kann aber in die Erde entweichen. Erst nach acht Monaten öffnete Michele Bono den Qvevri und pumpte den Wein in Stahltanks, wo er ein weiteres Jahr lang stabilisiert wurde. Danach kam er ungefiltert in die Flasche.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten

Beim Öffnen einer Flasche Kvevri aoc Zürich 2013 warnt Michele Bono: «Erwartet jetzt keinen euch vertrauten Wein, seid neugierig und lasst euch überraschen.» Erste Überraschung: die Farbe Orange. «Es ist eine neue Weinfarbe hinzugekommen», sagt er. «Es handelt sich um einen Orange-Wine, bei dem die Traubenschalen viel Gerbstoff abgeben konnten.» Die zweite Überraschung: der Geruch. Die Nase riecht den Duft von Orangenzesten, etwas Grappa-Aroma und eine dezente Sauerkrautnote. Daran muss man sich gewöhnen.

Und die dritte Überraschung folgt im Gaumen: die Aromanoten. Der Jahrgang 2013 hat eine rassige Säure, eine präsente Struktur und vor allem: Er hat einen grossartigen, lang anhaltenden, traubigmuskatigen Abgang. Ein Wein für Götter und Geniesser.

«Es ist eine neue Weinfarbe hinzugekommen, es handelt sich um einen Orange-Wine.»

Michele Bono

Diese Weine muss man mögen. Und finden. Nur ganz wenige Winzer produzieren in der Schweiz echten Qvevri-Wein und fast niemand stellt ihn in grösseren Mengen her. Im Jahr 2013 hat der Strickhof erstmalig 1200 Flaschen produziert. In den folgenden Jahren haben Fäulnis, kühles Wetter, mangelhafter Ertrag oder zu wenig ausgereifte Trauben weitere Qvevri-Jahrgänge verhindert. Doch 2018 will Michele Bono seinen Qvevri wieder füllen. Diesmal mit Sauvignon Blanc.

Qvevri-Weine sind extrem lagerfähig. Laut Michele Bono ist der Jahrgang 2013 jetzt trinkfertig, aber in 20 Jahren wird er vermutlich immer noch lebendig sein. Doch die Lagerung dieser Weine ist Sache von Profis: Richtig reifen kann er nur in der Dunkelheit, bei konstanten 4 Grad Celsius und richtiger Luftfeuchtigkeit.

Am Markt haben es die Qvevri-Weine schwer, denn sie polarisieren. Fruchtige Aromen fehlen, dafür bieten sie Spannung, Tiefgang und im Abgang eine wesenseigene Harmonie. Diese Weine sollte man nicht einfach so trinken, zum Apéro sind sie nicht geeignet. Kenner öffnen einen Qvevri-Wein einen Tag vorher und servieren ihn bei 12 bis 14 Grad zu währschaftem Essen wie Schweinebraten oder Gänsekeule. «Fettreiche Gerichte runden den Wein richtig ab», sagt Michele Bono. Dann fühlt man sich wie die Götter der Antike.

«Fettreiche Gerichte runden den Wein richtig ab.»

Michele Bono

VON:
Peter Keller