Der Palast steht noch immer an der Avenue de Chillon in Territet. Das mehrteilige Gebäude mit vom Verkehr grauverfärbter Fassade und verdunkelten Fenstern wirft seinen langen Schatten auf die Uferpromenade am Genfersee. Hier, wo Ende des 19. Jahrhunderts die österreichische Kaiserin Elisabeth gerne flanierte, wo in den Ballsälen rauschende Feste gefeiert und in den
«Hier in Territet liegt der Ursprung der Hotellerie.»
Küchen die edelsten Gerichte kreiert wurden, trotzt das einstige und teilweise leerstehende «Grand Hôtel et Hôtel des Alpes» dem Verfall. Von aussen lässt sich der letzte Schimmer glanzvoller Tage nur schwer erahnen, im Innern erzählen nur noch die riesigen gläsernen Kuppeln und die grosszügigen Räume die Geschichten aus einer anderen Epoche. «Rund 80 Prozent der ursprünglichen Bausubstanz ist noch erhalten», schwärmt Evelyne Lüthi-Graf. Die Historikerin war 22 Jahre lang Gemeindearchivarin von Montreux und betont immer wieder, wie wichtig das Grand Hotel für den Tourismus in der Region war. «Hier in Territet liegt der Ursprung der Hotellerie. Ohne die Grand Hotels gäbe es heute keine Tourismusregion Montreux.»
Bauboom und Pioniergeist
Offiziell wird aus der Pfarrei Montreux und den 24 benachbarten Dörfern erst 1962 eine Einheit. Touristisch ist der Name «Montreux» jedoch schon während der Belle Époque, der Zeit rund um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, in aller Munde. 1850 zählte Montreux noch acht Hotels, 1914 waren es bereits 120 mit annähernd 8’000 Betten. «Das ist auch für damals eine unglaubliche Zahl», sagt Evelyne LüthiGraf. «Vor allem, wenn man bedenkt, dass alle unregistrierten Pensionen nicht miteingerechnet sind.» Doch warum kamen die betuchten Gäste überhaupt in Scharen an den Genfersee, löffelten Pfirsich Melba auf der Sommerterrasse und spazierten unter Palmen im Hotelgarten? Der Erfolg hat einen Namen: Ami Chessex. «Was Johannes Badrutt für St.Moritz war, das war Ami Chessex für Montreux.» Die beiden Hotelpioniere hätten viel gemeinsam, sagt Lüthi-Graf. «Beide stammten aus einfachen Verhältnissen, arbeiteten sich mit innovativen Ideen zum Hotelier hoch und prägten eine ganze Branche mit ihrem Pioniergeist.» Chessex’ Wirken zeigt sich noch heute anhand des Gebäudeplans des Grand Hotels in Territet. «Ami Chessex machte aus dem kleinen Gasthaus innerhalb weniger Jahre ein dreiteiliges Grand Hotel. Gleich neben das Hôtel des Alpes baute er das Grand Hôtel Territet. Er hat ständig expandiert, angebaut, umgebaut. Ein richtiges Legoland.»
Der umtriebige Unternehmer hatte erkannt, dass Vergnügungsreisen für das gehobene Bürgertum dank einer finanziell guten Lage und mehr Freizeit attraktiver wurden. Und er liess sich einiges einfallen, um Gäste nach Territet zu locken. 1886 gründete er die spätere Société romande d’électricité und führte damit die Elektrizität im Hotel ein. Ob er oder Badrutt um 1878 und 1879 die erste autonome elektrische Beleuchtung einführten, darüber lässt sich bis heute streiten. Sicher ist: Das erste Telefon der Schweiz wurde im Grand Hotel Territet installiert. Zudem förderte Ami Chessex den Fremdenverkehr rund um Montreux. Während des touristischen Aufschwungs entstand die Uferpromenade zwischen Chillon und Clarens, die Tramlinie Vevey-Villeneuve (1888) sowie die Standseil- und Bergbahnen, die gleich hinter dem Hotelgebäude auf die nahegelegenen Berggipfel führen.
Grand Hotel im Dornröschenschlaf
Die imposante Grösse des Grand Hotels in Territet führt am Ende zum Untergang. In den 70er-Jahren kann sich das riesig grosse Hotel nicht mehr finanzieren. «Billige Flugreisen ins Ausland machten Grand Hotels unrentabel», erklärt Evelyne Lüthi-Graf. «Die
«Seit der letzte Besitzer pleite ging, liegt das Grand Hotel im Dornröschenschlaf.»
Banken wollten den Hotels keine Kredite mehr zahlen.» 1975 schliesst das Hôtel des Alpes, ein Teil wird zu Appartements umfunktioniert und an private Eigentümer verkauft. Der Ballsaal und der Wintergarten des Grand Hotels werden zu einem Theater umgebaut, bis 2018 beherbergt es im Speisesaal und in den Gemeinschaftsräumen das Musée National Suisse de l’Audiovisuel. Zweimal brach im Theater Feuer aus – 1984 und 2012. «Seit der letzte Besitzer pleite ging, liegt das Grand Hotel im Dornröschenschlaf.» Evelyne Lüthi-Graf arbeitet für das Hotelarchiv Schweiz und rettet alte Bestände von Grand Hotels – und wo immer möglich auch die dazugehörigen Gebäude. In Territet ist ihr die Rettung noch nicht gelungen.
«Territet Belle Epoque – Complexe de culture et de loisirs» hiess die private Initiative, die das Grand Hotel und das Hôtel des Alpes wiedererwecken wollte. «Es wäre eine super Sache geworden», ist Evelyne LüthiGraf als Mitinitiantin überzeugt. Mithilfe von Branchenverbänden und Sponsoren wollte man die Gebäude bei der Liquidation durch die Gemeinde Montreux erwerben und darin unter anderem das Schweizer Museum historischer Hotels mit Beständen aus dem Hotelarchiv, eine Bibliothek, ein Swiss Lodge Garni Hotel, ein Café, einen Eventraum im Sissisaal und eine Lounge einrichten. Gekauft hat das Grundstück zu einem Teil ein privater Investor, zum anderen Teil der Kanton Waadt. Evelyne Lüthi-Graf bedauert die Entwicklung sehr und ist vom damaligen Gemeinderat enttäuscht: «Das Projekt ist komplett am politischen Unverständnis gescheitert. Hinter der Zukunft des Grand Hotels in Territet steht erneut ein grosses Fragezeichen.»
Hotel National wird umgenutzt
Was private Initiativen bewirken könnten, zeigt die Geschichte zweier anderer ehemaliger Grand Hotels in Montreux. Nach der Blütephase während der Belle Époque überlebte das Hotel National die zwei Weltkriege und die Finanzkrise nur knapp. 1983 gab die Besitzerin, die Montreux Palace SA, endgültig auf und schloss das unrentable Hotel. «Es war über Jahrzehnte eine Ruine», erinnert sich Evelyne Lüthi-Graf. «Heute ist das ehemalige Hotel ein schönes Beispiel dafür, wie private Investoren historisch wertvolle Gebäude erhalten und ihnen einen neuen Lebenszweck geben können.» Als Hotelarchivarin war sie mit den neuen Besitzern, einem Immobilienatelier, in engem Kontakt und konnte dabei einen ganzen Saal voller gut erhaltener Möbel retten und diese für mehrere Schweizer Hotels wiederverwenden. Nach der Renovation des ehemaligen Grand Hotels 2006 eröffneten die National Montreux Residences ihre luxuriösen Appartements für Privateigentümer und Mieter.
Krieg und Frieden
Die zweite – wie Evelyne Lüthi-Graf es nennt – «grossartige Sucess Story», die ziemlich dramatisch hätte scheitern können, schreibt der Caux Palace auf den Hügeln oberhalb von Montreux. Auch hier hatten Ami Chessex und der Architekt Eugène Jost ihre Finger im Spiel und bauten 1902 auf Caux das bis dahin modernste und grösste Hotel der Schweiz. Einer, der heute durch die riesigen Hallen wandelt, ist Hospitality Manager Fabian Büecheler. «Um in einem Haus mit diesen Dimensionen zu arbeiten, braucht man Ausdauer», sagt er. «Pro Tag lege ich im Schnitt gut 20 bis 30 Kilometer zurück – einfach vom Hin- und
«Um in einem Haus mit diesen Dimensionen zu arbeiten, braucht man Ausdauer.»
Hergehen.» 30’000 Quadratmeter misst das Gebäude mit seinen derzeit 220 Schlafzimmern und über 400 Betten, 25 Meetingräumen, einem Theater, einer grossen Halle für 400 Gäste und einem Speisesaal, in dem locker 360 Menschen Platz nehmen können. Und dazu kommt die grosse Terrasse mit einer 400 Meter langen Stützmauer und einem 800 Meter langen Promenadenweg durch den Garten. Das Erbe der Belle Époque ist immer noch spürbar. «Wir hatten Glück, dass eine arme Stiftung das Haus kaufte und kein Geld hatte, alles zu modernisieren. Dadurch ist Caux Palace in der Schweiz eines der am besten erhaltenen Grand Hotels. Wir haben überall noch die alten Böden, die alten Fenster, die gesamte Dekoration.» Ein Hotel im eigentlichen Sinne sei Caux Palace jedoch seit 1938 nicht mehr. «Dennoch ging es immer auch um Gastfreundschaft und die Beherbergung von Menschen», sagt Büecheler.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geht das Grand Hotel bankrott – der Börsencrash und der Erste Weltkrieg haben dem Tourismus enorm geschadet. Im Krieg nutzt die Schweizer Regierung den Caux Palace zunächst zur Internierung britischer Kriegsgefangener. Später dient er als Asylzentrum für italienische Flüchtlinge und wird schliesslich Zufluchtsort für 1670 Juden aus Ungarn. «Die versteckten KZ-Flüchtlinge auf Caux, das ist eine fantastische Geschichte», sagt Evelyne Lüthi-Graf begeistert. Als ehemalige Gemeindearchivarin hat sie die Archive der Kriegsjahre von Montreux für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und damit die Hintergründe zum Kasztner-Transport offengelegt. Dem Journalisten Reszö Kasztner gelang es, insgesamt 1700 ungarische Juden für ein Kopfgeld von etwa 1000 Dollar freizukaufen. Im sogenannten Kasztner-Transport verliessen sie am 30. Juni 1944 Budapest, wurden von der SS in Geiselhaft genommen und im KZ Bergen-Belsen inhaftiert. Erst im Dezember konnte die letzte Gruppe endlich weiterreisen und wurde nach einem Zwischenhalt in St. Gallen gestaffelt im Hotel Regina (ehemals Grand Hotel Caux) und im Hotel Esplanade (Caux Palace) untergebracht. Ohne Einreisebewilligung unterstanden die Flüchtlinge der Bundespolizei. Die Historikerin erläutert: «Das war eine ganz heikle Situation. Der Frauenhilfsdienst der Schweizer Armee und das Rote Kreuz kümmerten sich um die versteckten Flüchtlinge. Wäre das damals öffentlich bekannt geworden, wäre es vielleicht Grund genug für einen Angriff auf die Schweiz gewesen.»
Zuhause im Caux Palace
Doch wie so oft hat der Caux Palace Glück – dank engagierten Menschen. Über 100 Schweizer Privatpersonen kaufen 1946 das ehemalige Grand Hotel und gründen die Caux-Stiftung. Diese basierte auf einer weltweiten Bewegung, die damals «Moralische Aufrüstung» hiess. «Die Initianten glaubten fest daran, dass man die Weltbevölkerung nun mit Werten statt mit Waffen ausrüsten müsse», erklärt Fabian Büecheler. Die Idee sei gewesen, aus dem Caux Palace ein «Home of the World» zu kreieren, ein Zuhause, in dem die europäischen Kriegsparteien in der neutralen Schweiz an einem Tisch zusammenkommen. «Das war natürlich sehr idealistisch, aber wir sind sehr froh, dass es den Caux Palace dank der Stiftung heute noch gibt.» Denn die andere Kaufpartei hätte den Palast komplett ausrangiert, verramscht und als Ruine zurücklassen wollen. Stattdessen kamen 400 Freiwillige aus der Schweiz und der ganzen Welt, um das Haus zu renovieren und wieder bewohnbar zu machen. Büecheler betont, dass sich seither nichts an der Gastfreundschaft verändert hat: «Jeder, der auf Caux kommt, wird royal willkommen geheissen – und zwar alle gleich. Egal ob Präsident, Lehrer oder Koch.» Die Idee funktionierte: Das Caux-Konferenzzentrum wurde zum Schauplatz einiger hochkarätiger Treffen von Politikern, Regierungsvertretern aus aller Welt und wichtigen Entscheidern von Hilfsorganisationen. Der Dalai Lama, der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Aussenminister Robert Schumann kamen vorbei. Friedensnobelpreisträger Kofi Annan besuchte Caux gar mehrmals.
Bis heute ist die «Initiative der Veränderung», so der aktuelle Name der gemeinnützigen Stiftung, die Besitzerin des Caux Palace. Während zehn Monaten im Jahr nutzt die Swiss Hotel Management School den Grossteil des Gebäudes. «Seit einigen Jahren führen wir parallel zur Schulnutzung auch einen Konferenzund Seminarbetrieb. Dieser ist mit 30 Zimmern relativ klein. Hauptsächlich kommen NGOs, internationale Organisationen oder Regierungsvertreter», erklärt der Hospitality Manager. Jeweils im Sommer lädt das Caux-Forum die ganze Welt zur Konferenz
«Jeder, der auf Caux kommt, wird royal willkommen geheissen.»
ein. In diesem Jahr werden gleich zwei grosse Anlässe parallel durchgeführt. Die Stiftung feiert ihr 75-jähriges Bestehen mit Online-Events, Konzerten und einem offenen Hotelgarten. Und ein Zusammenschluss von Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und das World Food Program, streamt seine Onlinekonferenz aus Caux an über 200’000 Teilnehmende aus der ganzen Welt.
Neuer alter Glanz
Fabian Büecheler blickt positiv in die Zukunft: «Ziel ist, das Haus für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mithilfe von Investoren zu renovieren und die Geschichte weiterzuschreiben.» Dazu soll 2022 ein Pop-up-Hotel für historisch Interessierte entstehen und in den nächsten Jahren – falls alles klappt – ein Restaurant sowie ein kleines, ganzjähriges Hotel, das von den Hotelschülerinnen und -schülern betrieben werden könnte. Die bevorstehenden Renovationen werden jedoch herausfordernd, weiss der Hospitality Manager. «Obwohl wir ständig renovieren, bringen wir es nie auf einen sauberen modernen Standard. Zum Glück wird mir als Hotelier in einem historischen Gebäude mehr vergeben als in einem neuen, modernen Haus.» Vor allem die elektrischen Kapazitäten stossen an ihre Grenzen. «Die Kabel sind noch nicht modernisiert und es jagt uns alle Sicherungen raus, sobald wir zu viele Geräte anstecken.» Während einige Sitzungszimmer topmodern eingerichtet sind, konzentriere man sich in den Schlafzimmern bewusst auf das Wesentliche: Ruhe ohne Ablenkung. «Mit der simplen Ausstattung möchten wir bewirken, dass die Leute am Abend einfach auf die schöne Terrasse sitzen, abschalten und zur Ruhe kommen. Unsere Gäste schätzen das sehr – vor allem Politiker oder Leute, die beim Roten Kreuz an vorderster Front im Einsatz sind.»
«Caux ist ein Kraftort. Hier fühlt man sich geschützt», spürt auch Evelyne Lüthi-Graf. Damit die Geschichte des Hauses nicht vergessen geht, arbeitet sie eng mit den Verantwortlichen des Caux Palace zusammen. Denn Fabian Büechler plant historische Events. Inklusive Galadinner, alten Kostümen und dem Silberservice. «Damit möchten wir die Belle Époque im Caux Palace wiederaufleben lassen.» Auch wenn das bedeute, das Silber wieder hervorzuholen. Denn das ist mit grossem Aufwand verbunden. Immer vor den Sommerkonferenzen kommen 40 Leute zusammen, um den Caux Palace vorzubereiten. Fünf sind eine Woche lang nur damit beschäftigt, das Silber zu polieren. Schönheit hat eben seinen Preis – besonders in einem historischen Haus, das kein Hotel mehr ist.
Dass auch das Grand Hôtel et Hôtel des Alpes wieder aufblüht, diese Hoffnung gibt Evelyne Lüthi-Graf nicht auf. Sie ist überzeugt: «Caux Palace und das National zeigen, dass solche Projekte Erfolg haben können.» Ausserdem hätten historische Hotels derzeit so viele Buchungen wie noch nie. Denn egal ob verlottert, umgenutzt oder modernisiert: Der Glanz der Grand Hotels strahlt bis in die Gegenwart.