Es gibt Orte, die einen in den Bann ziehen. Dort will man verweilen, durchschnaufen und auftanken. Einer dieser Orte ist Maloja (GR), knapp fünfzehn Kilometer vom mondänen Skiort St. Moritz entfernt. Unberührte Natur, der kristallklare Silsersee und die schneebedeckten Alpengipfel – all dies hinterlässt einen bleibenden Eindruck, wenn man von St. Moritz über den Malojapass gen Italien reist. Auch im Herzen des belgischen Grafen Camille de Renesse (1836 – 1904) brannte sich der Eindruck ein. Er reiste 1880 aus gesundheitlichen Gründen in die Schweizer Berge und war sofort Feuer und Flamme für diesen Landstrich. Der Graf beschreibt Maloja als «einen der ergreifendsten und grossartigsten Orte nicht nur des Engadins, sondern der ganzen Schweiz.»
Luxus und Natur als Vision
Historiker und Buchautor Peter Böckli berichtet in seinem Buch «Bis zum Tod der Gräfin» über das bewegt Leben des Grafen de Renesse (siehe Seite 74). Dieser konnte sich dem Bann von Maloja nicht mehr entziehen, wollte bleiben, seinen Lebensmittelpunkt dort aufbauen. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild, eine klare Vision von einem Hotel, das der gehobenen Gesellschaft einerseits Natur pur und andererseits die fortschrittlichsten Annehmlichkeiten der Zeit und ein luxuriöses Ambiente bieten sollte – und ihm ein hohes Einkommen. Der Graf war ein Marketinggenie: Er plante gewissenhaft, wie er zahlungskräftige Gäste anlocken könnte. Ein Golfplatz, ein Tennisplatz, eine Eisbahn, Dampfboote auf dem Silsersee sollten den Gästen Unterhaltung bieten. Und passend zur viktorianischen Epoche wurde für das Seelenheil der Gäste extra eine anglikanische Kirche erbaut.
Im Eilzugtempo realisiert
Von der Idee bis zur Eröffnung des Hotels vergingen nur vier Jahre. Ein immenses Tempo, wenn man bedenkt, dass der Graf erst noch 140 Hektar Land von mehreren Eigentümern, teils mit Hilfe von Strohmännern, erwerben musste. Für sein ehrgeiziges Projekt wählte Renesse den Architekten Jules Rau (1854 – 1919),
«Maloja ist einer der ergreifendsten Orte in der Schweiz.»
der ein fünfstöckiges Hotel im Neurenaissancestil entwarf. Nach nur zwei Jahren Bauzeit – es waren 500 Bauarbeiter im Einsatz – wurde das Hotel feierlich eröffnet und bot mit über 300 Schlafzimmern mit 450 Betten enorm vielen Erholungsreisenden Platz. Zu seiner Eröffnung war das Hotel das zweitgrösste Gebäude der Schweiz, nur die ETH in Zürich war grösser. Dasimposante Gebäude mit einer 200 Meter langen Fassade thront an einer Bucht des Silsersees, auf 1809 Metern Höhe, umgeben von majestätischen Berggipfeln. Ein Palast will etwas kosten. Die Investition betrugen stolze 7 Millionen Goldfranken, auf die heutige Kaufkraft umgerechnet entspricht dies ungefähr 105 Millionen Schweizer Franken.
Pioniere denken voraus
Das Ziel des Grafen war, das Hotel zu einem Treffpunkt für die Welt des Hochadels zu machen. Um noble Gäste anzuziehen, sollte der Neubau ihnen die modernsten Errungenschaften der damaligen Zeit bieten. Viele Dinge tönen für uns heute selbstverständlich, waren aber damals – mit der aufkommenden Elektrifizierung – der letzte architektonische Schrei. Es gab elektrisches Licht, dank der hauseigene Generatoren. Sogar Aufzüge kamen zum Einsatz und machten damit die oberen Etagen im Hotel gesellschaftsfähig. Eine zentrale Klimaanlage, extrem fortschrittlich zu dieser Zeit, wurde installiert, um die Zimmer zu belüften und zu heizen.
Nachhaltigkeitspionier
Das Maloja Palace ist seit 2006 wieder in adeliger Hand. Der italienische Herzog Amedeo Clavarino erwarb das Hotel mit der Absicht, es aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken und ihm seinen alten Glanz wiederzugeben. Carlo Goretti, Marketing Manager der Hotels, sagt: «Der Herzog möchte das Hotel rentabel führen, aber Nachhaltigkeit und Umweltschutz liegen ihm am Herzen.» Bereits 2004 gründete der Herzog eine Stiftung, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben hat. Die Stiftung «Ambiente Milano» hat zum Ziel, den städtischen Lebensraum zu verbessern. Wer die Luftverschmutzung und gelbgrauen Smogwolken in Mailand kennt, versteht, warum Clavarino saubere Luft und CO²-Reduktion am Herzen liegen.
Naturnähe im Palast
Meist bringt man Nachhaltigkeit mit kleinen Hütten aus Naturmaterial in Verbindung. Kann man so ein riesiges Hotel überhaupt nachhaltig bewirtschaften? Widerspricht nicht die Grösse des palastartigen Komplexes diesem Ziel? Amedeo Clavarino macht vor, wie das gehen kann. Seine Vision ist ein CO²- freier Tourismus: zum Entspannen einladen, Sport in der Natur ermöglichen, naturnah und ruhig. Bereits seit 2019 ist das Maloja Palace Hotel vollkommen CO²-neutral. Claudio Goretti sagt stolz: «Die Hälfte unserer Gäste sind wegen des klimaneutralen Angebots bei uns und schätzen es sehr.»
Es ist ein Spagat, die ursprüngliche Ausstrahlung des Hotelkomplexes zu erhalten und doch naturnah einzurichten. Dennoch gelang es – bei der sanften Renovation der Zimmer wurden so viele Naturmaterialien
«Die Hälfte unserer Gäste sind wegen des klimaneutralen Angebots bei uns.»
wie möglich eingesetzt. Unbehandeltes Massivholz für den Fussboden und Wandvertäfelungen verbreiten eine alpine Atmosphäre. In den Bädern findet man eine ungewöhnliche, aber stimmungsvolle Kombination aus Holz und Granit. «Noch sind wir an der Renovation der oberen Stockwerke des Hotels.» Der Marketing Manager fügt hinzu: «Wir weisen unsere Gäste darauf hin, umweltbewusst mit Wäsche und Handtüchern umzugehen und stellen in allen Bädern und der Hotelsauna Bioseife zur Verfügung.»
Askese bei der Einrichtung
In weissgewandeter, brauthafter Unschuld präsentiert sich der Speisesaal und lässt dennoch die frühere Pracht des Raumes und edle Ausstrahlung des Grand Hotels erahnen. Biologische Baumwolle ist der Rohstoff für die weissen Hussen über den Stühlen des Speisesaals. Wer italienisches Möbeldesign kennt, weiss: Moderner italienischer Chic bedeutet Weglassen. Klare Linien, klare Formen, schlichte Materialien. DieItaliener haben es sozusagen im Blut, Nachhaltigkeit durch Weglassen zu fördern. Die Klarheit, fast Askese bei der Einrichtung der Zimmer des Maloja Palace zielt darauf, mit dem maximalen Minimum auszukommen. Die rund 50 Suiten im Hotel verfügen über eine Küchenzeile. Goretti sagt: «Das ist ungewöhnlich, aber Teil unseres Konzepts. Es erlaubt den Gästen, sich auf Wunsch nachhaltig selbst zu versorgen oder sich einen biologischen Tee zum Einschlafen aufzugiessen.» Weniger ungewöhnlich ist die Hommage an den Hotelgründer. Eines der grössten Appartements wurde nach dem Grafen Renesse benannt.
Die neue Neutralität: CO²-neutral
Zur Erreichung der weltweiten Klimaziele ist die CO²- Neutralität in allen Bereichen wichtig. Noch ist das Maloja Palace Hotel nicht so weit umgebaut, dass es klimaneutral betrieben werden kann. Die Installation eines neuen Heizsystems ist bereits vom neuen Besitzer Clavarino angedacht. Sämtlicher Strom, den das Hotel bezieht, wird aus erneuerbaren Energien gewonnen. Um seinen umweltbewussten Gästen einen CO²-neutralen Aufenthalt garantieren zu können, kooperiert das Maloja Palace Hotel mit einer
«Auch in der Küche achten wir darauf, CO²-bewusst und nachhaltig zu agieren.»
Institution aus Italien: Lifegate, im Jahr 2000 gegründet, möchte für den Anbau von biologischen Produkten sensibilisieren. Die Kampagne «Impatto Zero», von Lifegate im Jahr 2002 initiiert, war weltweit die erste Initiative für die freiwillige Umsetzung des Kyoto- Protokolls. Mit «Impatto Zero» unterstützt Lifegate CO²-neutrale Projekte auf der ganzen Welt und verhilft so zur Reduktion des für die Atmosphäre schädlichen Kohlendioxids. Jedes Kilogramm CO², das im Maloja Palace ausgestossen wird, wird andernorts eingespart und so neutralisiert.
Marketing Manager Goretti hebt hervor: «Auch in der Küche achten wir darauf, CO²-bewusst und nachhaltig zu agieren. Wir bieten nur vegetarische Küche an, möglichst aus biologischen Zutaten. Manche Gäste beklagen sich, dass es beim Frühstück keinen Schinken gibt, aber spätestens nach zwei Tagen haben sie sich daran gewöhnt. Zur Hochsaison haben wir unser zweites Restaurant geöffnet, dort können unsere Gäste Biofleisch geniessen.»
Klimaneutrale Sportangebote
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in Maloja, welche die Luft nicht mit Abgasen belasten. Diverse Wanderwege locken auf die Berge, wer es flacher möchte, wandert rund um den Silsersee. Easy bergauf, rasant bergab und voll im Trend: Biking. Mit 400 Kilometern Mountainbikewegen ist das Engadin ein Eldorado für alle Biker und E-Biker. Weltberühmt ist der Engadiner Skimarathon, im Sommer kann man die 41 Kilometer lange Strecke auch mit dem Fahrrad erobern. Goretti sagt: «Mit dem E-Bike geht das mühelos und CO²-neutral. Tennis und Golfen locken im Sommer an die frische Luft. Für Wasserratten sind Windsurfen, Kajakfahren oder Standup-Paddling im Angebot und der Bau eines energieeffizienten Kinderskilifts ist geplant. Im Winter kann man schlittschuhlaufen, skifahren oder auf dem gefrorenen Silsersee eissurfen.»
Es gibt bereits Skiorte, die eine Klimaneutralisierung ihres Wintersportangebots anbieten: Ischgl in Österreich ist der grösste, aber auch Laax, Saas-Fee, Engelberg und Andermatt-Sedrun sind nachhaltig, energieeffizient und ressourcenschonend unterwegs. Der erste Solarskilift der Welt steht in Tenna (GR), nahe bei Rhäzüns, und produziert 90’000 kWh Strom pro Jahr.
Erfinder der Wintersaison
Was kaum jemand weiss, der belgische Hotelerbauer Renesse hatte eine wahrhaft pionierhafte Idee: Er erfand laut eigenen Aussagen die Wintersaison – für die Schweiz. Dank der Klimaanlage konnte sein Hotel auch im Winter wohlige Wärme bieten und er die Auslastung des Hotels verdoppeln. Ohne die Einnahmen aus der Wintersaison wäre sein Businessplan nicht haltbar gewesen. Bis dato waren vor allem die Sommermonate die Hauptreisezeit der reichen Hotelgäste, doch der Graf sah vermutlich den Boom des Skisports in den Alpen voraus. Der Wintersport auf zwei Brettern verbreitete sich stetig, dank der norwegischen Erfindung der Telemarkbindung um 1860. Renesse war jedoch in seiner Ehre gekränkt, dass der Hotelbesitzer Badrutt aus St. Moritz bereits 1883 die elektrische Beleuchtung und die Wintersaison einführte, ein Jahr vor der Eröffnung des Maloja Palace Hotels.
Bewegte Geschichte des Maloja Palace Hotels
Das Hotel hat eine turbulente Geschichte. Zur feierlichen Eröffnung am 1. Juli 1884 reisten illustre Gäste aus dem europäischen Hoch- und Geldadel an. Derriesige, bemalte Kursaal, ursprünglich als Casino angedacht, wurde zum Ball-, Konzert- oder Speisesaal umfunktioniert. Die Realisierung des Casinos scheiterte an der strikten Schweizer Gesetzgebung: Der Graf erhielt keine Ausnahmebewilligung für das Spielverbot von 1874. Spielen war zu dieser Zeit nur mit bescheidenen 2 Franken Einsatz und in Kursälen erlaubt. Somit zerschlugen sich die Pläne des Grafen, Maloja zum Monte-Carlo der Schweizer Berge zu machen. Bis zur offiziellen Gesetzesaufhebung hätte er bis 1993 warten müssen. Der ursprüngliche Name «Kursaal Maloja» blieb erhalten, bis es 1925 von Sir Henry Lunn erworben und in «Maloja Palace Hotel» umbenannt wurde. Bereits nach fünf Monaten war der Erbauer des Hotels nicht mehr zahlungsfähig. Wie kam es dazu? Warum blieben die Gäste aus? Eine Choleraepidemie im grenznahen Italien führte drei Tage nach Eröffnung des Hotels zu einer Grenzschliessung und Reiseverboten. Eine kaum vorhersehbare Situation. Aber wie bei der COVID-19-Pandemie reagierten die Behörden damals konsequent auf die gesundheitliche Bedrohung, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Das Hotel und die eingeschlossenen Gäste blieben von der Cholera verschont, aber die nötigen Einnahmen blieben aus. Im Dezember 1884 erklärt der Graf seine Zahlungsunfähigkeit. Drei Monate zuvor verstarb seine junge Gattin unter bis heute ungeklärten Umständen in einem Basler Hotel. Das Buch von Peter Böckli «Bis zum Tod der Gräfin» berichtet sehr dezidiert über die Geschichte und gescheiterte Finanzierung des Hotels. Nach Camille de Renesse hatte das Hotel mehrere wechselnde Besitzer. Während des Krieges wurde es vom Militär zweckentfremdet und stand nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahre leer. Im Jahr 1957 wurde es zu einem Ferienheim umgewandelt. Seit 2006 ist es im Besitz von Herzog Amedeo Clavarino.