Ein Schnuppertag in einer Hotelküche brachte den dreizehnjährigen, im bündnerischen Sagogn aufgewachsenen Andreas Caminada auf den Gedanken, Koch zu werden. «Die Leute waren nett zu mir», erinnert er sich, «das war schön. Und deshalb habe ich den Beruf gewählt, ohne zu wissen, was es bedeutet, in der Gastronomie zu arbeiten.» Mit dem Kochen kam die Leidenschaft. Nach der Lehre sammelte Caminada im In- und Ausland Erfahrungen, und 2003 eröffnete er sein eigenes Restaurant im Schloss Schauenstein, rund 20 Kilometer südlich von Chur. «Wir waren im Niemandsland», so Caminada. «Es gab keine Restaurants hier, und es ist auch kein Skigebiet. Aber wir sagten, wir fangen einfach einmal an.»
Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten. Bereits im Jahr darauf wurde Andreas Caminada mit seinem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet. 2007 folgte der zweite, und er wurde Gault&Millau-Koch des Jahres. «Mit 30 Koch des Jahres zu werden und es zweimal zu werden, das ist schön», sagt er, «eine Bestätigung, dass man etwas richtig macht.» Aber es ist auch eine Verpflichtung: «Es gibt ein Renommee, man steht für etwas.» 2010 bekam er als jüngster Koch Europas seinen dritten Michelin-Stern, und seit 2011 ist sein Restaurant ununterbrochen auf der Liste der «World’s 50 Best Restaurants».
Im Helikopter und mit dem Fahrrad
Wie in einem Märchenbuch ragen die Türme von Schauenstein über Fürstenau, und ein Rundgang durch die «kleinste Stadt der Welt» lässt keinen Zweifel daran, wer hier zuhause ist. Im Schloss und dem Meierhaus erwarten elegante Hotelzimmer die Gäste von Andreas Caminada, die Remisa mit ihrer offenen Küche dient Anlässen und Kochkursen. Hier werden die Kochvideos aus dem Atelier Caminada aufgezeichnet, die der Gault&Millau-Kanal allwöchentlich ausstrahlt. Das Casa Caminada ein paar Schritte weiter serviert Bündner Spezialitäten; das schlichte Restaurant in den umgebauten Stallungen ist bei den Einheimischen und Familien mit Kindern beliebt, und hier findet man oft spontan noch einen Platz.
«Wir wollen keine Trendsetter sein, aber wir gehen mit der Zeit.»
90 Prozent von Caminadas Gästen kommen aus der Schweiz, einige im Helikopter, viele jedoch auch mit dem Fahrrad, und alle sollen sich wohlfühlen. Dazu lagern edle Weine in den alten Kellern, aber auch Eingemachtes, Pilze zum Beispiel aus der Region. Und da gibt es eine Bäckerei, eine Kaffeerösterei und einen Laden, in dem eigene und ausgewählte Produkte verkauft werden. «Wir wollen keine Trendsetter sein», erklärt Caminada, «aber wir gehen mit der Zeit.» Nachhaltigkeit und Regionalität sind ihm wichtig. «Wir nehmen die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf, aber wir lassen unsere Geschichte nicht verschwinden. »Durch Partnerschaften mit lokalen Betrieben garantiert er Qualität, entwickelt neue Produkte und, so sagt Caminadas Assistentin: «Wir haben inzwischen auch viele Bauern aus der Gegend, die uns frische Zutaten bringen. Es ist cool zu sehen, was die Köche daraus kreieren.»
Harmonisch und nicht alltäglich
Für Andreas Caminada ist Kochen zuerst einmal ein Handwerk. Es geht um Zutaten, um Produkte und darum, aus diesen etwas Spannendes zu machen. Dazu braucht es den Kopf, aber auch Feingefühl. Sicher gibt es einen Caminada-Stil: nahe am Produkt, verspielt, aber nicht verschnörkelt. «Es geht um den Geschmack», erklärt er. «Wenn es eine Gurke ist, soll es auch nach Gurke schmecken. Wie kann ich aus dieser Gurke das Beste herausholen? Wenn das einmal stimmt, kommt der zweite Schritt: Wie soll ich das anrichten, was für ein Geschirr nehme ich, was für Besteck? Aber in erster Linie geht es darum, gut zu kochen.»
Während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 kochte der internationale Spitzenkoch für seine Familie, die ebenfalls in Fürstenau wohnt. Am besten, meinte sein sechsjähriger Sohn, war Papas
«Eigentlich kann man alles kombinieren, alles, was man gernhat, was harmonisch ist, einen kleinen Twist hat.»
Tomatensauce. «Das war ein Megakompliment», lacht Caminada. «Die Sauce ist das, was alles verbindet. Aber letztlich ist jedes Element wichtig. Auch eine gute Suppe ist etwas Wunderbares. Das bekommt man fast nirgendwo mehr, und da muss man nicht mega kreativ sind.» Kürzlich hat er zu Hause einen Peperonisalat mit Pfirsichen und Tomaten gemacht. «Das war grossartig. Denn eigentlich kann man alles kombinieren, alles, was man gernhat, was harmonisch ist, nicht gerade alltäglich, auch eine gewisse Überraschung erzeugt, einen kleinen Twist hat.»
Die Menüs für das Schloss bestehen inklusive Apérosnacks und Amuse-Bouches aus rund fünfzehn Gerichten. «Jedes Gericht muss in sich stimmig sein.
«Wir sind Unternehmer, wir wollen Zeichen setzen, uns selbst weiterentwickeln.»
Man darf sich nicht zu oft wiederholen, und man will auch Spannung erzeugen. Da kann dann auch etwas sehr simpel sein, das will man vielleicht.» Wichtig sei, dass die Dramaturgie stimme.
«Mach es anders!»
In Fürstenau kocht Andreas Caminada auch für Acasa, das von ihm mitgegründete Catering der Sterneköche. Und in der Schlossküche beginnen die jungen Talente aus dem Koch- und Servicebereich, die Caminada in seiner Fundaziun Uccelin fördert, ihre zwanzigwöchige Weiterbildung, bevor sie bei ausgewählten Chefköchen gastieren. «Die meisten Köche auf diesem Niveau», erklärt Caminada, «sind angestellt, und es geht darum, gut zu kochen. Das ist natürlich auch wichtig. Aber wir sind Unternehmer, wir wollen Zeichen setzen, Leute ausbilden, etwas zurückgeben, und wir wollen uns selbst weiterentwickeln.» Bisher wird die «Stiftung der Vögelchen» hauptsächlich von Gönnern getragen. Doch auch ein Anteil jedes Menüs geht als Spende an die Stiftung, genauso wie Einnahmen des Spitzenkochs aus den Gastspielen und bestimmten Kooperationen. In ihren Abschlussarbeiten entwickeln die Stipendiaten zudem jeweils ein Produkt, das der Stiftung etwas eintragen kann, spezielle Pralinen zum Beispiel, einen Brotsack oder ein Gewürzpaket rund um den Fisch.
Die Qualität und Kontinuität, die Andreas Caminadas Wirken auszeichnen, spürt man auch bei seinen Mitarbeitern und den Köchen, die hier gearbeitet haben. «Natürlich», so Caminada, «kann man es sich einfach machen, die Rezepte nehmen, kopieren, aber das reicht nicht. Ich glaube, man muss aus sich rausgehen, einen eigenen Stil suchen, das ist die Aufgabe von jedem einzelnen Koch, der hier weggeht, und das sage ich ihnen auch: Such dir einen eigenen Weg, mach es anders!»
«Ich glaube, man muss aus sich rausgehen, einen eigenen Stil suchen.»
Stil und Qualität
Auf der Suche nach neuen Herausforderungen entwarf Caminada vor fünf Jahren in Anlehnung an asiatische Traditionen eine zweite Restaurantlinie: IGNIV, vom rätoromanischen Wort für Nest abgeleitet. Dank einer Fine Dining Sharing Experience soll sich der Gast individuell umsorgt und wohlfühlen. «Es war ein Risiko, wir wussten nicht, ob das ankommt, und es gab auch skeptische Fragen zum Sharingkonzept.» Statt der klassischen Gangabfolge wählen die Gäste aus drei oder vier Gängen mit verschiedenen Gerichten, die in unterschiedlichen Schalen und Platten serviert und am Tisch geteilt werden.
Der Erfolg des ersten IGNIV im Grand Resort Bad Ragaz war so durchschlagend, dass wenige Monate später ein zweites im Badrutt’s Palace Hotel in St. Moritz eröffnet wurde. Beide Restaurants haben
«Es geht nicht darum, dass man zum Caminada geht, sondern zum Silvio, zum Francesco.»
Inzwischen zwei Michelin-Sterne. Sein drittes kulinarisches Nest lancierte Caminada vor einem Jahr im Zürcher Niederdorf im Hotel Marktgasse, das vierte startete im vergangenen Oktober in Bangkok. «Es geht ums Teilen», erklärt er, «um gutes Essen und einen schönen Ort, den man gernhat, wo man weiss, da findet man Stil und Qualität, und es ist trotzdem entspannt und unterhaltsam.» Wenn das IGNIV-Konzept auch unter Caminadas Name vermarktet wird, so sollen in den Restaurants doch die Köche vor Ort im Vordergrund stehen. «Es geht nicht darum, dass man zum Caminada geht, sondern zum Silvio, zum Francesco.»
Herausforderung und Genugtuung
Bei allem Erfolg ist Andreas Caminadas Drang, etwas so gut wie möglich zu machen, ungebrochen. «Einen gesunden Ehrgeiz», nennt es der inzwischen 44-jährige Spitzenkoch, der ihn dazu treibt, sich weiterzuentwickeln, weiterzubilden. «Dafür muss ich nicht jedes Mal meinen Beruf ändern, sondern in dieser Arbeit, die ich mache, immer wieder neue Impulse setzen.» Gerade die Vielfältigkeit seiner Tätigkeit ist der Ansporn. «Wenn ich den ganzen Tag nur kochen, wenn ich immer das Gleiche machen würde, wäre es mir irgendwann langweilig.» So geht er Projekte an, riskiert Neues. «Das ist eine Herausforderung für alle, aber auch eine Genugtuung.» Enttäuschungen gab es dabei bisher keine. «Sicher macht man sich Gedanken», meint Caminada. «Man muss gute Mitarbeitende haben, das ist das A und O.» Er hat mit vier Angestellten begonnen, nun beschäftigt er allein in Fürstenau deren 60. «Und jeden einzelnen braucht es. Jeder muss seinen Job anständig machen, sonst funktioniert es nicht.» Dass jede und jeder seinen Raum, seine Verantwortung hat, dass sie immer wieder neue Perspektiven bekommen, das betrachtet Andreas Caminada als seine Hauptaufgabe. Er ist sich klar, dass er ein Vorbild ist. «Wir haben Erfolg und sind sehr dankbar dafür. Aber es ist tagtäglich ein Riesenkrampf. Es stecken Herzblut und viel Arbeit dahinter, und man wird gemessen daran. Doch es hat nicht nur mit Kochen zu tun, sondern mit dieser Passion, sich verwirklichen zu können und etwas voranzutreiben.»