Gastronomie Tommy Dätwyler 27.08.2019

Birnel: Die Bio-Alternative zu Honig und Zucker

Als gesunder und natürlicher Zuckerersatz zielt der Birnendicksaft auf ein Comeback in der modernen Gastronomie. Das traditionelle, vegane Süssungsmittel ohne Zusatzstoffe aus Schweizer Bio-Birnen ist vielseitig einsetzbar und hat das Potenzial, vom Arme-Leute-Essen zum Lifestyle-Produkt zu werden. Gastrofacts hat den einzigen Birnel-Produzenten der Schweiz besucht.

Unsere Eltern und Grosseltern haben Birnendicksaft noch als Brotaufstrich und als Zuckerersatz in der Küche geschätzt. In den letzten Jahren aber ist Birnel immer mehr in Vergessenheit geraten. «Noch 2017 haben wir 45 Tonnen Birnel verkauft, 2018 waren es bereits 11 Tonnen weniger», sagt Esther Güdel, Kommunikationsverantwortliche beim Hilfswerk Winterhilfe. Die Winterhilfe erwirtschaftet mit dem Verkauf des Naturprodukts jährlich noch rund 100’000 Franken. Der Erlös fliesst seit mehr als 50 Jahren in Hilfsprojekte für über 30’000 Menschen in der ganzen Schweiz. Seit etlichen Jahren ist Birnel aber auch bei den Grossverteilern Migros und Coop im Sortiment.

Vom Arme-Leute-Honig zum Lifestyle-Produkt
Die Winterhilfe-Sprecherin bringt ihre Sorgen auf den Punkt: «Obwohl die Nachfrage nach Birnel in Bioqualität tendenziell steigt und natürliche Lebensmittel bei vielen Konsumentinnen und Konsumenten hoch im Kurs sind, leidet das Traditionsprodukt unter mangelnder Publizität und einem etwas angestaubten Image.» Es seien vor allem ältere Leute, welche den früheren Arme-Leute-Honig noch kennen würden. Bei Jüngeren fehle das Wissen um die vielen Einsatzmöglichkeiten des Naturprodukts, das auch in der modernen Küche eine gute Figur mache. Das soll sich nun aber ändern. Die Winterhilfe möchte den Marktauftritt modernisieren und den Birnendicksaft als Zuckerersatz in der modernen Küche und bei jungen Leuten

«Natürliche Lebensmittel sind
hoch im Kurs.»

Esther Güdel
Leiterin Kommunikation
Winterhilfe Schweiz

wieder attraktiv und hip machen. «Birnel hat alle Voraussetzungen, um vom Arme-Leute-Honig zum Lifestyle-Süssprodukt zu werden. Es ist vegan, enthält keine Zusatzstoffe und muss nicht aus dem fernen Ausland eingeflogen werden», sagt Esther Güdel. Schon die Römer erkannten den Wert der Birne Die Birne wurde ursprünglich, wie der Apfel oder die Quitte, von den Römern in die Schweiz gebracht und galt lange als Männlichkeitssymbol. «Manche bezeichnen die Birne gar als Alpenviagra», sagt Birnel-Produzent Robert Brunner lachend. «Wer sich früher im Stall ein Stierenkalb wünschte, versuchte bei der Kuh mit Birnenessig nachzuhelfen.»

 

Äusserst gut lagerfähig und gesund, gehörte die Birne gekocht und gedörrt jahrhundertelang fast wie die Kartoffel zu den Grundnahrungsmitteln breiter Bevölkerungskreise. Heutzutage steht sie im Schatten des Apfels. «Eigentlich schade», sagt Robert Brunner. Der Mitinhaber und Geschäftsleiter der Wehntaler Mosterei E. Brunner AG im zürcherischen Steinmaur ist der einzige, aber umso leidenschaftlichere Birnel-Produzent in der Schweiz. Brunner, von Haus aus Lebensmittelingenieur, ist davon überzeugt, dass die Birne und damit auch der dicke Birnensaft in ihrem Wert unterschätzt werden. Er freut sich, wenn Birnel wieder mit gesunder Küche, natürlicher und nachhaltiger Lebensmittelproduktion sowie Natur- und Landschaftsschutz in Verbindung gebracht wird. Robert Brunner weiss, was neben genau 19 Prozent Wasser in seinem Birnel steckt: «Pure und ehrliche Natur, die sich in dieser Form nicht nur als Süssstoff und Zuckeralternative, sondern auch als Brotaufstrich, für Sirup, als Balsamico-Zutat und viele weitere Einsatzmöglichkeiten beim Kochen und Backen eignet.»

«Birnel ist ewig und einen Tag haltbar.»

Stefan Brunner
Produktionsleiter
Mosterei E. Brunner AG

Robert Brunner und sein Bruder Stefan verarbeiten in der Mosterei derzeit rund 1500 Tonnen Birnen pro Jahr. In einem dreistufigen Prozess entstehen so jährlich rund 150 Tonnen Birnel, rund die Hälfte davon in Bioqualität. Zusätzliche Produktionskapazitäten wären vorhanden. «Wir sind bereit für einen steigenden Absatz», so Robert Brunner. «Das Know-how ist da und auch die Rohstoffe könnten beschafft werden.»

Drei Schritte, drei Tage, ein Produkt
Es dauert jeweils drei Tage, bis aus dem trüben Birnensaft klar-goldenes Birnel wird. Jeweils im Herbst werden die in der ganzen Schweiz eingekauften Mostbirnen angeliefert, gemahlen und gepresst. Danach wird der Saft von rund 1500 Tonnen Birnen natürlich konserviert und für die Zwischenlagerung eingedickt. Je nach Bestellungseingang kann die Mosterei Brunner dann mehr oder minder regelmässig auf das Lager zurückgreifen und auch kurzfristig frisches Birnel produzieren.

In einem ersten Schritt wird das von Natur aus trübe Birnensaft-Konzentrat aus dem Lager wieder verdünnt und mit einer Hochleistungsmembrane gefiltert. So werden die trüben Gerbstoffe abgetrennt. Zurück bleibt ein klarer Birnenmost aus Wasser, Zucker und Säure. In einem zweiten Schritt wird der unterdessen klare Birnensaft entsäuert. In einem Jonentauscher
 

«Wir sind bereit für einen steigenden Absatz.»

Robert Brunner
Mitinhaber und Geschäftsleiter
Mosterei E. Brunner AG


werden die Säuremoleküle abgeschieden, und so wird der Saft ohne Beigabe von Zusatzstoffen versüsst. In einem dritten und letzten Schritt schliesslich wird der Saft so lange energie- und ressourcenschonend konzentriert und reduziert, bis Farbe, Konsistenz, Säuregehalt und Wasseranteil genau den Rezeptvorgaben entsprechen. Aus 3500 Litern Birnenmost entstehen so bei jedem Produktionsgang 350 Kilogramm Birnel. Es ist, wie Produktionsleiter Stefan Brunner sagt, «ewig und einen Tag haltbar», obwohl die Lebensmittelkontrolle die Haltbarkeitsangabe auf der Etikette beschränkt hat. «Kein Problem», sagen die Gebrüder Brunner lachend. Sie wissen, dass ihr Birnel meistens vorher gegessen oder zum Kochen und Backen verwendet wird.»

BIODIVERSITÄT DANK HOCHSTÄMMERN
«Birnel», sagt Mosterei-Chef Robert Brunner, «ist nicht nur ein hochwertiges Schweizer Naturprodukt, sondern auch Sinnbild für eine nachhaltige Landwirtschaft und ein Kontrapunkt zu ausgeräumten Landschaften.» Brunner setzt sich nicht nur im eigenen Betrieb, sondern auch im Zürcher Kantonsrat für die Belange der Natur ein. Der studierte Lebensmittelingenieur ist grundsätzlich Feuer und Flamme für die Birne. «Nicht nur, weil Hochstammobstbäume für das Landschaftsbild eine Erholung sind, sondern weil damit auch für Vögel und Insekten ein wertvoller Lebensraum mit Nist- und Futterplätzen angeboten werden kann.»

Alte Birnensorten sterben aus
Weil in naher Zukunft die beiden wichtigsten traditionellen Birnensorten, die Gelbmöstlerbirne und die Schweizer Wasserbirne, alters- oder krankheitshalber aussterben werden, haben Robert und Stefan Brunner vor einigen Jahren zusammen mit Partnern eine Pflanzaktion für Birnen-Hochstammbäume lanciert. Dank 1000 jungen, zukunftstauglichen Hochstammbäumen kann das Angebot an Mostbirnen in Bio-Knospe-Qualität in Zukunft gesichert werden. Rund die Hälfte des von der Mosterei E. Brunner AG produzierten Birnels hat Bioqualität, Tendenz steigend.

ERFUNDEN ALS MITTEL IM KAMPF GEGEN SCHNAPSBRENNEREI
Birnel ist ein geschützter Markenname des Schweizer Obstverbandes und wird seit über 70 Jahren nach dem gleichen Rezept hergestellt. Die Geschichte des Birnendicksafts beginnt mit dem anfangs des letzten Jahrhunderts verbreiteten Alkoholismus. 1932 wurde deswegen ein neues Alkoholgesetz erlassen, mit dem die «brennlose Obstverwertung» staatlich unterstützt wurde. So wurden damals plötzlich deutlich mehr Birnen statt zu Schnaps zu Birnel verarbeitet. Der «Birnen-Honig» wurde damals auch als Zuckerersatz an Bedürftige abgegeben, was ihm den Übernamen Arme-Leute-Zucker oder -Honig eingetrug. Variationen von Birnendicksaft kennt man in der Romandie mit dem «Vin cuit» (wörtlich: «gekochter Wein») oder in der Innerschweiz als Zutat von Lebkuchen.

Autor: Tommy Dätwyler