Eine durchschnittliche Jahrestemperatur von 18 Grad Celsius, mindestens vier Stunden Sonne pro Tag, regelmässige Niederschläge und so gut wie kein Frost. So lauten die Bedingungen für erfolgreichen Teeanbau. Die Schweiz erfüllt nur eine dieser Anforderungen. Gut, dass die 7500 Quadratmeter grosse Anbaufläche in Appenzell das nicht weiss. Auf ihr pflanzt das Kräuterhaus Appenzell nämlich Eisenkraut, Marokkanische Minze, Ringelblumen und 37 weitere Teepflanzen und Kräuter an. Auf 1000 Metern über Meer, ohne Dünger, ohne Pestizide. Der Bio-Blütenteppich aus den verschiedensten bunten Farben am Fuss des Alpsteingebirges gibt ein malerisches
«Teekräuter passen sich der Umgebung an und kommen mit Stressfaktoren wie Wind, Kälte oder Höhe klar.»
Bild ab. Inmitten der Kräuter steht Joël Musil, Co-Geschäftsführer des Kräuterhauses, und pflückt eine scharlachrote Goldmelissenblüte. «Eine anspruchsvolle Pflanze. Jede Blüte besteht aus rund 15 Blättern. Und jedes Blatt muss einzeln gepflückt werden, damit es nicht kaputtgeht.» Später werden die Blüten der Goldmelisse entweder Teil einer Bioteemischung sein, eine Duschlotion anreichern oder aber an einen der Abnahmepartner weitergegeben, wie beispielsweise Appenzeller Käse.
Im Einklang mit der Natur
Joël Musil ist seit 2019 an Bord des Kräuterhauses und mittlerweile ein Experte, wenn es um Teeanbau in Appenzell geht. «Teekräuter passen sich der Umgebung an und kommen mit Stressfaktoren wie Wind, Kälte oder Höhe klar.» Die Ernte gibt ihm Recht. Rund 300 Kilo frische Kräuter erntet das Kräuterhaus-Team pro Saison. Das ergibt pro Jahr eine Tonne an getrockneten Kräutern für das stetig wachsende Sortiment der eigenen Produktlinie sowie für diverse Abnahmepartner wie beispielsweise auch die Appenzeller Alpenbitter AG. «Nebst der richtigen Feldpflege sind wir natürlich auf gutes Wetter, sprich auf viel Sonne angewiesen. Die Unwetter in diesem Jahr haben uns regelrecht einen Strich durch die Rechnung gemacht», so der gebürtige Appenzeller. «Zu viel Wasser ertränkt die Pflanzen nicht nur, sondern nimmt ihnen zudem ihren intensiven Geschmack. Ohne Sonne entwickelt die Teepflanze keine ätherischen Öle.» Die wenigen Sonnenwochen des hiesigen Sommers waren eine wahre Wohltat, sodass die Kräuter für kurze Zeit der Sonne entgegenspriessten. Die Sträucher der Zitronenmelisse wuchsen zwei Meter in die Höhe, ihre
«Ohne Sonne entwickelt die Teepflanze keine ätherischen Öle.»
Blätter wurden handflächengross. Dann muss es jeweils schnell gehen. «Wenn es so weit ist, muss man ernten und die Pflanze stutzen, damit sie ihre gesamte Energie für das Wachstum der neuen Triebe einsetzen kann.» Die Einbussen der diesjährigen Ernten konnten durch Partnerschaften mit anderen regionalen Kräuterproduzenten ausgeglichen werden. «Teeanbau in der Schweiz bedeutet, flexibel zu sein und zu experimentieren.»
Dieses Jahr hat sich das Kräuterhaus erstmals in der Methode der Permakultur versucht. Dieses landwirtschaftliche Planungssystem imitiert die Muster und Beziehungen der Natur, um ein sich langfristig selbst erhaltendes System für Pflanzen, Tiere und Umwelt zu schaffen. Das Ziel dabei ist, die externe Zufuhr von Nährstoffen möglichst gering zu halten. Im Falle des Kräuterhauses bedeutet dies konkret, statt wie üblich ein Teekraut pro Beet zu pflanzen, verschiedene Pflanzen nebeneinander anzusiedeln, um ein sich selbst regulierendes Ökosystem zu schaffen. «Nachhaltigkeit und die Verbundenheit zur Natur sind uns in allen Bereichen ein Anliegen.» Während Joël Musil durch die farbigen Beete führt, an Edelweiss, Mandarinenminze und Hanfpflanzen vorbei, summt im Hintergrund ein Laubbläser, das einzige motorisierte Gerät auf dem Feld. Mit einer Bodenfräse und einer Heckenschere für den Herbstschnitt ist der Feldmechanisierungsgrad des Kräuterhaus bescheiden.
Mit Hand und Herz
Alle Kräuter werden von Hand gepflückt. Vier Personen braucht es, um in einem Tag eines der 75 Beete zu ernten. Digitalisierung und Automatisierung sucht man im Appenzeller Betrieb fast vergebens. «Durch das sanfte und sorgfältige Ernten bleiben die Blätter und Blüten als Ganzes erhalten», so Musil. Das bewahre die Aromen und verleihe den Tees auch optisch etwas Edles. Denn das Auge trinkt mit, ist man beim Kräuterhaus überzeugt. Einzig beim Trocknungsprozess und beim Rebeln wurde die Handarbeit von einer Maschine abgelöst. «Früher bündelten wir die Kräuter bereits bei der Ernte und hängten jeden Strauss in Grossmuttermanier über Stäben im Gaden auf. Ein Ventilator für die Luftzirkulation und ein herkömmlicher Raumentfeuchter – das war unsere einfache Infrastruktur, langfristig jedoch nicht tragbar.» Heute trocknet eine Maschine 80 Kilo Tee in zwei Tagen.
«Durch die Arbeit in der
Natur haben bereits viele
Jugendliche wieder den
Tritt im Leben gefunden.»
Bedürfnissen auf dem Kräuterfeld eine sinnstiftende Beschäftigung. Dieser Aspekt war Petra Dörig-Eyacher und ihrem Ehemann Maurus Dörig besonders wichtig, als sie das Kräuterhaus, damals noch mit dem Namen Appenzeller Bio-Kräuter GmbH, im Jahr 2016 gründeten. «Durch die Arbeit in der Natur und mit anderen Menschen haben bereits viele Jugendliche oder ehemalige Suchtpatienten wieder den Tritt im Leben gefunden», so Maurus Dörig. Als er mit seiner Frau anfing, Heilkräuter für den Eigengebrauch anzupflanzen, war eine Grössenordnung der heutigen Produktion nicht das Ziel. «Eines Tages klopfte der Spirituosenproduzent Appenzeller Alpenbitter an die Tür und fragte uns, ob wir zu seinem Lieferanten werden möchten.» Danach ging es schnell, mehr regionale sowie nationale Partnerschaften kamen hinzu und aus den anfänglich drei Kräuterbeeten wurden 70 Aren Anbaufläche. Mit der benötigten zusätzlichen Manpower verwirklichten die Dörigs ihre Vision, Menschen mit besonderen Bedürfnissen eine berufliche und soziale Perspektive zu bieten.
Appenzeller Symbiose
Mittlerweile sind die Dörigs in einem Teilzeitpensum für das Kräuterhaus tätig, Maurus übernimmt beispielsweise die Führungen auf dem Kräuterfeld, die das Unternehmen anbietet. Die Geschäftsleitung teilen sich Joël Musil und Sascha Möckli, der Sohn des Appenzeller Unternehmers und Investors Urs Möckli, der das Kräuterhaus im Jahr 2019 übernommen hat. Die Philosophie aus Gründertagen prägt den gesamten Betrieb bis heute und ist mitunter ein Grund, weshalb Sascha Möckli im Sommer 2021 seine ehemalige Heimat Hamburg verlassen und die Arbeit als Geschäftsführer aufgenommen hat. «Die enge Zusammenarbeit mit der Natur, sozial schwächeren Menschen und der Region finde ich wunderschön. Und: Das Kräuterhaus birgt viele spannende Potenziale», sagt der gelernte Koch und Betriebswirt. So sind im Verkaufsladen am Landsgemeindeplatz in Appenzell laufend neue Kräuterprodukte zu finden, wie beispielsweise Teemischungen, Pflegelotionen oder ein Kaffeegewürz, das für Fleischmarinaden oder Eintöpfe verwendet werden kann. Der Kaffee dafür stammt natürlich von der Rösterei Bruehpunkt nebenan.
«Wir möchten die Region aufblühen lassen und die geografisch möglichen Symbiosen nutzen.» Das Sortiment ist deshalb ein bunt gemischtes Potpourri aus hauseigenen Produkten sowie Essig, Naturheilprodukten oder Bier von anderen regionalen Produzenten. Alles mit viel Liebe handgemacht. «Auf Handarbeit setzten wir der Qualität wegen», so Sascha Möckli.
Dieser Anspruch zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Teeproduktionsprozess. Die Teebeutel bestehen aus transparenten, aus Maisstärke hergestellten und somit abbaubaren Netzen, in denen die bunten Kräuter schön zur Geltung kommen. Jeder einzelne Teebeutel wird von Hand befüllt und genäht. Damit die Mischung im Beutel stimmt, achten die Mitarbeitenden beim Abfüllen auf das richtige Verhältnis zwischen feinen und groben Pflanzenteilen. So entstehen Teemischungen, bei denen jeder Beutel ein Unikat ist. Entsprechend ist auch der Preis: 39.80 Franken kostet eine Schachtel mit 20 Teebeuteln, wobei ein Teebeutel einen Liter Tee ergibt. Die Kunden sind bereit, diesen Preis für die Qualität zu zahlen: Neben dem steigenden Direktverkauf, der auch über einen Onlineshop läuft, zählt das Kräuterhaus immer mehr Gastronomiebetriebe zum Kundenstamm. «Wir beliefern viele Hotels und Restaurant in der Region und für manche kreieren wir sogar eigene Teemischungen mit personalisierten Etiketten», sagt Sascha Möckli.
Und was sagt der Blick in die Zukunft? «Wir möchten unsere Eigenlinie noch stärker ausbauen, da wir hier die bessere Wertschöpfung haben. Öle, Gewürzmischungen und Pflegeprodukte sind vielversprechend. Die Tees, die puren Kräuter, werden aber immer im Vordergrund stehen.» Man darf also gespannt sein, welche Kräuterkraft demnächst aus Appenzell strahlt.
TEA TIME
Die mehrteilige Gastrofacts-Serie «Tea Time» beschäftigt sich mit der Welt des Tees. Tee hat eine traditionsreiche Geschichte. Diesen Traditionen und der Entwicklung vom Zufallsprodukt zum Trendgetränk möchten wir auf den Grund gehen. Nehmen Sie Platz und schenken Sie sich eine heisse Tasse Tee(geschichte) ein.