Das 300-Seelen-Dorf Sagno im Tessin: Hier engagieren sich Riccardo Poggi und Martino Mombelli.
Gastronomie Peter Keller 18.04.2019

BIO belebt Bergdorf

Zwei «Junge Wilde» ziehen aus, um die Welt zu sehen. Und kehren zurück, um sich für ihr Dorf zu engagieren. Dabei setzen der Tessiner Gourmetkoch und der Bauer ganz auf Bio und regionale Produkte.

Im südlichen Tessin, nahe der Grenze zu Italien, gibt es östlich der Nord-Süd-Achse ein wildes Tal, das Valle di Muggio. An dessen Steilhängen kleben winzige Dörfer, eines davon heisst Sagno. Das 300-Seelen-Dorf liegt abgelegen auf 700 Metern über Meer, man erreicht es über eine steile, kurvige, doch für Tessiner Verhältnisse noch komfortable Strasse. Das Panorama ist atemberaubend. Im Nordwesten leuchten die Gipfel der Walliser Alpen in der Morgensonne, nach Süden blickt man in die lombardische Ebene bis nach Mailand.

Wir haben uns mit zwei der Einwohner unterhalten: mit Riccardo Poggi, Koch im Gasthof Ul Furmighin und mit Martino Mombelli, Bauer und Bierbrauer vom Hof Terra Matta. Zwei «Junge Wilde», die nach Lehr- und Wanderjahren in ihr Dorf zurückkehrten, beseelt von einer Idee: Liefere Qualität, schone die Umwelt und respektiere den Menschen.

Der Biokoch
Riccardo Poggi absolvierte in Chiasso die Kochlehre. Es folgten einige Jahre in London, wo er in renommierten Sternerestaurants den Feinschliff zum Gourmetkoch erhielt. Und nach einem Abstecher in den Raum Zürich kehrte er 2014 nach Sagno zurück. «Ul Furmighin» ist Tessiner Dialekt und bedeutet kleine Ameise. Unter diesem Namen besteht eine Genossenschaft mit dem Zweck, dem Dorf Sagno eine Infrastruktur zu bieten, in der zwischenmenschliche Beziehungen und das gesellschaftliche Zusammenleben gepflegt werden können. Im ehemaligen Pfarrhaus betreibt die Genossenschaft einen Gasthof mit Unterkunft sowie einen Dorfladen. Anna Biffi, die Mutter von Riccardo Poggi, ist Präsidentin der Genossenschaft und gleichzeitig Wirtin des Gasthofes.

«Direkt beim Hersteller
einzukaufen lohnt sich,
man erhält beste Produkte
und schont die Umwelt.»

Riccardo Poggi
Koch, Gasthof Ul Furmighin

«Nach meiner Rückkehr habe ich sofort begonnen, die Gastronomie des Betriebes zu modernisieren», erzählt Riccardo Poggi. Er will sich auf die lokalen Spezialitäten und Produkte konzentrieren, die in seiner unmittelbaren Umgebung reichlich hergestellt werden. Denn er ist überzeugt: «Direkt beim Hersteller einzukaufen lohnt sich, man erhält beste Produkte und schont die Umwelt.» Das war nicht immer leicht, denn die lokalen Bauern sind eher misstrauisch und bevorzugen die traditionellen Distributionskanäle. Riccardo Poggi hat drei Jahre gebraucht, um ein stabiles Netz an regionalen Lieferanten aufzubauen. «Mir gefällt der direkte Kontakt zum Produzenten. Ich kann meine Wünsche einbringen und erhalte eine Qualität, die anderswo kaum zu finden ist», sagt er.

 

Der Biobauer
Einer dieser Lieferanten ist Martino Mombelli. Nach dem Gymnasium in Mendrisio besuchte er die Fakultät für Geistes- und Humanwissenschaften der Universität Neuenburg. Um das Studium zu finanzieren, arbeitete er gleichzeitig auf einem biologischen Bauernhof, wo er seine Liebe zur Landwirtschaft entdeckte. Und die war so stark, dass er das Studium abbrach, nach Sagno zurückkehrte und die landwirtschaftliche Ausbildung im Istituto Agrario Mezzana absolvierte. Im Jahr 2012 machte sich Martino Mombelli mit dem Projekt Terra Matta selbständig und verwirklichte seine eigene Lebensphilosophie. «Ich habe eine grosse Leidenschaft für den heimatlichen Boden, für die handwerkliche Eigenproduktion und glaube an die zunehmende Nachfrage nach echten, unverfälschten Nahrungsmitteln.» Unter dem Label Terra Matta begann Martino Mombelli gutes, handwerklich hergestelltes Bier herzustellen. Sechs Sorten sind es bislang, alle mit Bio-Zertifizierung, zwei davon mit dem Gütezeichen Pro-Specie-Rara. Zudem baut er in terrassierten Gärten, nach streng biologischen Richtlinien, Gemüse, Früchte und Kräuter an, die er direkt an Konsumenten verkauft oder zu Saft, Sirup und Konserven weiterverarbeitet.

«Ich glaube an die zunehmende Nachfrage nach echten, unverfälschten Nahrungsmitteln.»

Martino Mombelli
Bauer und Bierbrauer

Riccardo Poggi kauft bei Terra Matta Bier, ausgewählte Gemüsearten, seltene Tomatensorten und Kräuter ein. «Meine Gerichte koche ich nach Hausfrauenart, aber interpretiere sie neu», sagt der ausgebildete Gourmetkoch bescheiden. «Alles saisonal, naturrein, gut und gesund.»

 

Kreative Hausmannskost
Alles, was er kann, kauft Riccardo Poggi lokal oder in der Umgebung ein. Das zwingt ihn zu einer saisongerechten Küche, er wechselt seine Speisekarte alle zwei bis drei Wochen. «Ich will meine Gäste immer wieder mit Neuigkeiten überraschen. Es stört mich, wenn ein Gast zwei Mal die gleiche Karte präsentiert bekommt», so Riccardo Poggi. Kreativität ist ihm wichtig. Er erfindet die traditionelle Tessiner Küche neu, setzt eigene, einzigartige Akzente. Im letzten Sommer hat er zum Beispiel die im Tessin beliebten Costine im Frühlingsheu geräuchert, bevor er sie für die Gäste auf den Grill legte. In seinem Keller hängen Trockenfleisch, Speckseiten und Wurstwaren, die er bei lokalen Metzgern frisch einkauft und dann nach eigenen Rezepturen selber reift und lagert.

In seiner Zeit in England hat Riccardo Poggi das japanische Wagyu-Fleisch kennen und schätzen gelernt. Als er per Zufall erfuhr, dass in seiner Region Japanese-Black-Rinder gezüchtet werden, kaufte er ein ganzes Tier. «Die Chance, ein absolutes Topprodukt, weltbekannt als Kobe-Fleisch, biologisch produziert und ohne weiten Transport einkaufen zu können, konnte ich mir nicht entgehen lassen», erzählt er. Im «Furmighin» bietet er nun jeden Tag eine andere Wagyu-Spezialität an: Carpaccio, Tartar, Grillfleisch, Roastbeef, Braten oder eine Fleischterrine. Nach dem Motto: Es hat, solange es hat. Doch das versteht nicht jeder Gast. Ein Konzept für Aufgeschlossene «Es ist manchmal schwierig, meine Philosophie den Gästen verständlich zu machen», sinniert Riccardo Poggi. «Am Anfang hatte ich so meine Probleme.» Denn hier bestimmt der Chef das Menü, ganz nach seinem Gusto. Alles mit frischen, qualitativ hochstehenden Bioprodukten – so, wie er sie in seiner Umgebung findet. Wildspezialitäten gibt es im «Furmighin» nur dann, wenn lokale Jäger ein Tier erlegt haben. Wild von ausserhalb der Region oder gar aus dem Ausland kauft Riccardo Poggi nicht. Sein Konzept richtet sich an ein neugieriges, aufgeschlossenes Publikum, das nach Sagno fährt, um sich vom Chef überraschen und verwöhnen zu lassen. Etwa 150 Gäste pro Woche tun dies bereits, mit steigender Tendenz. Seine Stammkunden kommen aus dem Mendrisiotto, aus dem Luganese, aber auch aus Italien.

«Es ist manchmal schwierig, meine Philosophie den Gästen verständlich zu machen.»

Riccardo Poggi

Die Fahrt nach Sagno lohnt sich. Allein für die grosse Käseplatte für vier Personen, auf der ausschliesslich ausgesuchte Käsesorten aus der Region serviert werden. Nebst dem Zincarlin, dem bekannten Rohmilchkäse aus dem Valle di Muggio, kann man sich an exklusiven Käsesorten erfreuen, die im Keller von Riccardo Poggi in Grappa, im Heu oder in einem Bierdestillat reifen durften. Echte Unikate.

 

Aktive Berghilfe
«Was Riccardo Poggi tut, ist das höchste der Gefühle. Er ehrt die Mühen der Dorfbevölkerung», sagt Biobauer Martino Mombelli. Beide praktizieren das, worüber sonst nur geredet wird: lokal produzieren und lokal verkaufen. Damit unterstützen sie das lokale Gewerbe, vermeiden unnötige Belastungen der Umwelt und der Gast kann sehen, wo die Produkte hergestellt werden, die er konsumiert.

In der Furmighin-Bottega können die lokalen Produkte sowie Güter des täglichen Bedarfes gekauft werden. Der Dorfladen lebt im Sommer von Wanderern und sonst von der älteren Dorfbevölkerung, für die der Weg nach Mendrisio zu beschwerlich ist. Rentabel sei das nicht, gibt Riccardo Poggi zu, doch dank der freiwilligen Hilfe einer pensionierten Verkäuferin und der Unterstützung durch das Restaurant kann der letzte Laden im Tal am Leben erhalten werden.

Die Rechnung geht auf
Kann man von diesem biologisch-lokalen Konzept leben? «Ja, das kann man», ist Martino Mombelli überzeugt. Es funktioniere allerdings nur, wenn man viel arbeite, das Meiste selber mache und auf einiges verzichte. Sein gesamter Betrieb ist im alten Elternhaus untergebracht, die Mikrobrauerei steht im selben Gebäude. Er erhält zwar keine Subventionen, hat aber auch keine Miet- und Lohnkosten. «Ich arbeite in einem Nischenmarkt, doch es funktioniert», erzählt er stolz. Auch Riccardo Poggi spricht von Leidenschaft, Fleiss mund viel Arbeit. Sein Team besteht im Wesentlichen aus ihm und seiner Mutter Anna Biffi. Seine Schwester, eine Küchenhilfe und eine weitere Kraft helfen in Teilzeit, wenn Restaurant, Zimmer und im Sommer der Garten ausgebucht sind. «Und das ist gut so. Ich habe Charakter und mache, was ich für richtig halte», sagt Riccardo Poggi.

Klein, aber fein. Riccardo Poggi und Martino Mombelli stehen auf naturreine Produkte, die beschränkt lieferbar und deshalb so wertvoll sind. Martino Mombelli ist auch Mitbegründer der Bisbino GmbH, die seit 2016 biologischen Gin und Kräuterbitter herstellt. Reine Naturprodukte aus dem Valle di Muggio, die sich sogar auf dem nationalen Markt langsam einen Namen machen. Doch das ist eine andere Geschichte.